Kapitel 13

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Er stand wieder vor mir. So nah war ich ihm zuvor noch nie gewesen und wenn ich könnte, würde ich direkt mehrere Meter Abstand nehmen, aber es war so als ob ich mich nicht bewegen konnte. Mein Körper weigerte sich, während mein Verstand versuchte dagegen anzukämpfen und das ohne Erfolg.

Ich konnte sein Gesicht immer noch nicht erkennen. Die Kapuze hing ihm tief ins Gesicht und auch sonst war durch die schwarze Kleidung, ja selbst die schwarzen Handschuhe, so gut wie gar nichts zu sehen.

Ich sah mich um. Ich war tatsächlich immer noch hier, in meinem Zimmer. Das hier war real. Er stand mitten in meinem Zimmer, mein Herz schlug mir bis zur Brust und nach wie vor konnte ich mich nicht bewegen.

Der Mann kam mir einen Schritt näher und meine erste Reaktion wäre gewesen, direkt einen Schritt zurückzutreten, aber meine Beine gehorchten mir nicht. Wie angefesselt blieb ich stehen und selbst mein Blick schien an dem Mann zu kleben.

"Lass es zu, Olivia. Lass die Angst zu."

Es war dieselbe Stimme, die ich schon mal gehört hatte. Dieselbe unbekannte Stimme, die ich noch nie gehört hatte, außer in meinem Kopf vor einigen Tagen und eben genau jetzt in diesem Moment. Dass es tatsächlich Menschen gab, die Stimmen in ihrem Kopf hörten und deswegen teilweise komplett durchdrehten, war mir bewusst und umso weniger wollte ich mir selbst eingestehen, dass ich ziemlich nah dran war, zu dieser Gruppe von Personen zu gehören. Ich wollte das nicht. Ich war nicht verrückt. Was auch immer ich da hörte, sah oder mir einbildete, irgendwann würde ich es nicht mehr tun. Es würde aufhören, ganz sicher.

Ich wollte fragen, wer er war und was er von mir wollte. Weshalb sollte ich die Angst zulassen? Und welche Angst? Die Angst vor diesem Mann? Ich wollte sein Gesicht sehen; wissen, ob ich ihn überhaupt kannte oder woher er mich kannte. 

So viele Fragen und keine davon sprach ich laut aus. Denn auch wenn ich sprechen wollte, ich konnte nicht. Ich schaffte es nicht mal, meinen Mund zu öffnen; als ob ihn jemand zugeklebt hatte.

Ich sah mich wieder um. Ich war in meinem Zimmer. Wie war er in mein Zimmer gelangt? Seit gestern Abend war unsere Tür versperrt und alle Fenster geschlossen. Meine Mutter war Zuhause, hätte sie es nicht mitbekommen sollen, wenn irgendjemand in der Wohnung war? Die Wände hier waren nicht sehr schalldicht; selbst wenn die Tür geschlossen war, konnte man noch ziemlich gut mitverfolgen, was sich vor der eigenen Zimmertür abspielte.

Dann spürte ich wieder diesen stechenden Schmerz in meiner Schulter und verzog mein Gesicht.

Als ich dann meine Augen wieder öffnete, saß ich auf dem Stuhl vor meinem Schreibtisch, ein Stift in meiner Hand und ein Block vor mir. Der Mann war nicht zu sehen und die Tatsache, dass ich plötzlich wieder auf dem Stuhl saß, obwohl ich vor einigen Sekunden noch mitten in meinem Zimmer gestanden hatte, lieferte mir den endgültigen Beweis, dass das, was auch immer gerade passiert war, nicht real gewesen war.

Das Letzte Mal, als mir das passiert war, hatte ich es gewusst. Ich wusste, dass es nicht real war. Das letzte Mal war es ein Traum gewesen, aus dem ich von alleine erwacht war. Aber dieses Mal hatte es sich so verdammt real angefühlt. Ich hatte das Gefühl, der Mann stand wirklich vor mir. Ich hatte seinen Atem in meinem Gesicht spüren können, ich hatte gezittert und das Rasen meines Herzens hatte mir ernsthafte Sorgen bereitet.

Ein Blick auf das Blockblatt verriet mir, dass ich dieses Mal nicht geträumt hatte. Das Blatt war nicht länger leer, war war vollgekritzelt und das mit dem Zeichen, das auf meiner Schulter war und dasselbe Motiv, das Dylan sich auf seinen Unterarm hatte tätowieren lassen. Das Blatt war voll damit, mal hatte ich es groß gezeichnet, mal etwas kleiner. Das eine war etwas ordentlicher als das andere, aber es war dennoch immer dasselbe Motiv.

Direkt stellte ich mich vor den Spiegel, mein Blick nun auf meine Schulter gerichtet und das Zeichen hatte sich erneut erweitert. Jetzt sah es genauso aus wie Dylans Tattoo, denn nun war inmitten des Kreises derselbe Stern. Anders als das Tattoo war das Zeichen auf meiner Schulter immer noch rot, nicht schwarz.

Was zur Hölle?

Manchmal glaubte ich an Zufälle, aber in diesem Fall konnte ich das nicht. So ein Zeichen erschien nicht einfach  auf meiner Schulter und so ein Motiv ließ sich ein 19-Jähriger nicht einfach auf seinen Unterarm tätowieren. Der Zufall war zu groß und wirklich, ich war kurz davor einfach zu ihm zu gehen.

Ich recherchierte ich im Internet, wie eine komplett Irre, die besessen war und gar nicht mehr damit aufhören konnte. Natürlich stand dort viel Mist, vieles, das nicht stimmte und einfach komplett erfunden war, aber ich suchte nicht unbedingt nach einer Erklärung, sondern viel mehr nach diesem einen Motiv. Ich gab alles mögliche an, aber nach mindestens zwei Stunden hatte ich nichts gefunden, das dem Zeichen auch nur annähernd ähnlich sah und so kam ich zu dem Entschluss, dass er mir nicht die ganze Bedeutung seines Tattoos erklärt hatte. Da musste noch was sein. Oder vielleicht hoffte ich das einfach nur, weil ich mir sonst noch verrückter vorkam als ich wahrscheinlich sowieso schon war.

Immerhin war ich scheinbar nicht die einzige Verrückte. Im Internet gab es so viele Menschen, die von irgendwelchen eigenartigen Erfahrungen erzählten, teilweise hörten sich diese Dinge sogar noch absurder an als das, was mir passierte und dennoch fand ich nichts, das mir eine Erklärung lieferte. Ich fand nur Vermutungen, irgendwelche Geschichten und Antworten, die mich kein bisschen weiterbrachten, sondern manchmal sogar hinterfragen ließen, ob diese Menschen überhaupt ein Gehirn hatten. Aber was hatte ich erwartet? Es gab immer mindestens eine Person, die den Ernst der Situation nicht wahrnahm. Eigentlich schon lustig, weil ich manchmal selbst solch eine Person war. 

Aber nicht in diesem Fall. Ich versuchte es mit Humor zu nehmen, aber wie sollte ich das anstellen? Irgendeine fremde Männerstimme im Kopf zu hören und zusätzlich immer wieder einen mysteriösen Mann zu sehen -heute mitten in meinem Zimmer-  war nicht lustig, es war beängstigend, absurd und gruselig. 


Hunted | Dylan O'BrienWhere stories live. Discover now