Kapitel 2

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Ich hatte in meinem ganzen Leben noch nie Heimweh gehabt; weder auf Klassenfahrten, noch wenn ich bei Freunden übernachtete oder während des Urlaubs, denn jedes Mal wusste ich, dass ich bald wieder Zuhause sein würde. Jetzt war es anders. Das hier war kein Urlaub oder irgendeine Klassenfahrt, es war ein Umzug, eine komplette Umstellung. Ich hatte keine Ahnung, wann ich wieder nach New York könnte und dort wohnen würde ich nie wieder. Ich vermisste es. Ich vermisste so ziemlich alles, was in meiner Heimatstadt war. Das Leben in New York ging weiter, ganz normal, während sich mein eigenes Leben komplett umstellte. Und ja, ich wollte zurück nach Hause, zurück nach New York, denn das war mein Zuhause und nicht diese kleine Mietwohnung in dem winzigen Kaff, das mit Ausnahme der Einwohner selbst wahrscheinlich niemand kannte.

Meinen Entschluss Abends joggen zu gehen statt Morgens, wie ich es sonst immer tat, bereute ich schon nach wenigen Minuten, als ich feststellte, wie trostlos und dunkel hier alles aussah, es war schon fast beängstigend. Aber wenn ich nochmal darüber nachdachte, dann war mir das lieber als Morgens irgendwelchen Menschen zu begegnen, die sich dann fragen würden, wer ich war und weshalb ich in diese Kleinstadt gezogen war. So lief das nämlich hier, alle kannten sich und jeder wusste über jeden Bescheid.

Ich hatte mir eigentlich die perfekte Zeit ausgesucht, die meisten müssten mittlerweile von der Arbeit nach Hause gekommen sein und für abendliche Spaziergänge war es wohl zu spät -oder die Leute hatten nach der Arbeit einfach keine Lust mehr darauf, während Schüler Zuhause saßen und versuchten den Rest ihres Tages noch zu genießen, bevor sie am nächsten Tag dann wieder in die Schule mussten.

Und bei diesem Gedanken könnte ich selbst direkt wieder kotzen. Ich war eigentlich nie einer dieser Schul-Hasser gewesen. Ich war ziemlich gut in der Schule und das Lernen fiel mir nicht schwer. Das war es auch nicht, was mir mehr oder weniger Sorgen bereite; viel mehr war es die Tatsache, die Neue zu sein. Ich war noch nie die Neue. Ich war immer auf der selben Schule gewesen und in meiner Umgebung kannten mich so gut wie alle.

Hier kannte mich niemand, aber dafür wussten wahrscheinlich umso mehr Leute, dass die Stadt zwei neue Einwohner hatte.

Dabei waren es nicht mal die Blicke meiner Mitschüler, die wahrscheinlich an mir hängen würden, die ich befürchtete. Eigentlich befürchtete ich gar nichts. Viel mehr war es diese 'Keine-Lust'-Einstellung. Keine Lust auf Leute, die mich ansprachen und irgendetwas über mich wissen wollten. Keine Lust auf Lehrer, die von mir verlangen würden, dass ich mich vorstellte. Keine Lust orientierungslos durch das Schulgebäude zu laufen, bis sich netterweise jemand bereiterklärte mir zu helfen, wobei wir zurück zu Nummer eins auf der Liste kamen: Jemand würde mit mir reden wollen. Ich wollte keine neuen Freundschaften schließen. Meine Freunde waren in New York und ich brauchte keine neuen Menschen in meinem Leben, weil mir a) die Menschen reichten, die ich hatte und ich b) hier sowieso nicht lange bleiben würde, also weshalb sollte ich irgendwelche Personen in mein Leben treten lassen?

Ich war keine schreckhafte Person, aber als ich an der Kreuzung abbog und nur einige Meter vor mir einen Mann sah -dem Körperbau zufolge sah es zumindest sah es stark nach einem Mann aus, konnte ich nicht anders als zusammenzuzucken. Er stand einfach da, als ich weiter lief und mein Plan einfach an ihm vorbeizurennen, erschien mir auf einmal nicht sonderlich schlau.

Ich schaltete mein Handy ein, ohne überhaupt vor zuhaben, Hilfe zu rufen, aber die Tatsache, dass ich das tun könnte, würde ihn hoffentlich verschrecken und ließ mich selbst zumindest ein kleines Stückchen sicherer fühlen. 

Es war bestimmt keine Sekunde gewesen, in der ich meinen Blick von diesem Mann abgewandt hatte und dennoch hatte er es irgendwie geschafft, zu verschwinden. Einfach so. Er war weg und nirgends zu sehen. Ich wusste nicht, ob ich mich das beunruhigen oder erleichtern sollte, denn auf der einen Seite war er wenigstens weg, aber auf der anderen Seite könnte er sich genauso gut hinter irgendeinem Auto oder Haus verstecken, regelrecht darauf wartend, dass ich an ihm vorbei rannte.

Eine Zeit lang stand ich auch einfach nur da, genauso wie der Mann gerade, bevor ich umdrehte und anfing in die andere Richtung, von der ich gekommen war, zurück zu rennen.

Morgens konnte ich nicht joggen gehen, weil genau dann alle zur Schule oder Arbeit mussten, direkt nach der Schule wollte ich nicht joggen gehen und Abends traf ich auf komische, beängstigende Männer, die erst wie am Boden gefesselt stehen blieben, bevor sie dann auf einmal verschwanden und das in nicht mal einer Sekunde. Ich war bereits seit einigen Tagen hier und nein, ich gewöhnte mich nicht daran, in dieser Kleinstadt zu wohnen, stattdessen fand ich nur Tag für Tag immer mehr Gründe, weshalb ich nicht länger hier bleiben wollte.

Es war eine verdammte Zwickmühle, denn ich wollte nicht hier bleiben, aber ich wollte auch nicht zurück nach New York, wenn ich genau wusste, dass mein Vater dort war und es nicht lange dauern würde, bis er mit einer Entschuldigung bei uns, mir und meiner Mutter, ankommen würde. Ich wollte seine Entschuldigung nicht hören. Ich wollte gar nichts mehr von ihm hören, geschweige denn ihn wiedersehen.

Bis ich vor unserem Wohnhaus stehen blieb, hatte ich gar nicht gemerkt, wie schwer ich nach meinem zurückgelegten Sprint atmete und wie sehr ich in meinen Gedanken versunken gewesen war. Ich war verschwitzt und völlig außer Atem, mein Herz schlug schnell, als ich die Tür öffnete und die Treppen nach oben lief. Ich war vielleicht gut in Volleyball und ließ das Joggen über mich ergehen, aber abgesehen davon konnte und wollte ich mich nicht für Sport begeistern.

"Soll ich dich morgen zur Schule fahren oder fährst du selbst?"

Meine Mutter saß im Wohnzimmer auf der Couch mit einem Buch in ihrer Hand und einer Decke, die sie vor der Kälte schützte, denn zwar funktionierte das Licht, aber dafür keine der Heizungen in dieser Wohnung. Hinzu kam die Tatsache, dass wir weder WLAN, noch sonst irgendwelchen technischen Anschluss hatten und es konnte noch Wochen dauern, bis wir diesen erhielten.

"Wenn du dein Auto nicht brauchst, dann kann ich selbst fahren", antwortete ich, während ich meine Haare aus dem Pferdeschwanz löste und mich schon mal in Richtung Bad bewegte.

"Ich kann zu Fuß zur Arbeit, nimm es ruhig", sagte sie und ich hatte gerade die Tür des Badezimmers geöffnet, als sie noch etwas hinzufügte: "Und Liv, wenn wir uns hier eingelebt haben, dann bekommst du auch wieder dein eigenes Auto."

Ich könnte gut auf das Auto verzichten, wenn ich dafür mein altes Leben zurückbekommen würde. Das Leben, mit dem ich zufrieden war. Nicht nur ich, auch meine Mutter und mein Vater, sie beide waren glücklich gewesen.

Und von einem Tag auf den anderen löste sich dieses Leben regelrecht in Luft auf. Es war genauso schnell verschwunden wie der Mann, den ich vorhin beim Joggen gesehen hatte.


Hunted | Dylan O'BrienWhere stories live. Discover now