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„Al-Chatan...!"

Merhibam wunderte sich, wie ruhig ihre Stimme klang. So fühlt es sich also an, wenn die Hoffnung verloschen ist, dachte sie. Noch nie war jemandem gelungen, von dort zu fliehen. Noch nie hatte jemand diese Festung eingenommen. Sie stand so unverrückbar fest wie die Tatsache, dass Arved sterben würde, und dass sie nichts, gar nichts dagegen würde tun können! Einige Augenblicke lang sagte sie sich, dass nun eben alles vorbei war. Der endgültige Abschluss ihres Abenteuers. Der endgültige Abschluss all ihrer Verirrungen. Nun hatte sie wirklich keine andere Wahl mehr, als sich in das Leben zu schicken, für das sie von jeher bestimmt war. Sie würde wieder freundlich sein und so reizend, wie ihr Vater es sich wünschte. Der Skandal würde langsam in Vergessenheit geraten. Einen wirklich guten Ehemann würde ihr Vater nicht mehr finden für sie, schließlich war ihr Ruf besudelt. Aber es würde sich doch jemand finden lassen, der bereit war, die Tochter des Großwesirs zu ehelichen. Und sie würde versuchen, ihm eine gute Frau zu sein. Oder... sie konnte sich auch umbringen.

„Es tut mir leid..." Froboscha wand sich leicht verlegen. Den Schmerz dieses Menschenmädchens anzusehen, war ihr unangenehm.

„Man kann mit einem Boot dorthin gelangen," versuchte Farline ein kleines Zeichen der Hoffnung zu setzen. „Wir haben heute gesehen, wie ein Boot von dort gekommen ist. Kein Kriegsschiff, sondern..."

„... der Kahn von ein paar Boronis!" dämpfte Froboscha die Gefährtin.

Die schöne Tulamidin nickte langsam. „Sie holen die Leichen derer, die dort verstorben sind. Al-Chatan verlässt man nur für Hinrichtungen oder als Toter." Ihr Ton war sachlich, so ruhig, als erzähle sie ein paar Fremden etwas von den Sehenswürdigkeiten der Stadt. Sie musste nur ruhig werden. Vergessen, was mit ihr geschehen war. Vergessen, was sie getan hatte. Die Hoffnung vergessen, mit der sie die letzten Wochen gelebt hatte. Oder den Mut aufbringen, sich selbst einen Dolch ins Herz zu bohren... Mut?! Das soll Mut sein, Merhibam? Und du hast IHM etwas von Mut erzählt, von der Kraft, die man haben muss, um ein neues leben zu beginnen? Und... wer bist du jetzt?!

Die zwei Nordländerinnen blickten einander hilflos an. Was sollten sie noch sagen?

Plötzlich und für die beiden unerwartet sprang Merhibam auf. „Ich weiß, was ich tun muss!" rief sie aus.

Farline und Froboscha begriffen nicht.

Doch sie war voller Erregung und ihre Augen leuchten von neuem Leben:  „Bitte. Vielleicht gibt es einen Weg. Wenn ihr mir helft, kann ich ihn vielleicht retten. Aber dafür muss ich ihn zuerst töten."

Merhibam lächelte über die entsetzten Gesichter der zwei Gefährtinnen. Jetzt konnte sie es wieder -  lächeln.  „Hört mir zu, „ sagte sie leiser, beinahe verschwörerisch. „Ich will es euch erklären...!"

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Perlenmeer Teil 3: BoronWo Geschichten leben. Entdecke jetzt