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Merhibam fand keinen Schlaf in dieser Nacht, obwohl sie sich immer wieder sagte, dass sie ihre Kräfte brauchen würde. Sie dachte an das kleine Boot, das hübschbemalte Boot, das ihren Namen trug, das nur einen Mast besaß und der bequemen Kajüte, ein Tisch, viele Lager mit Kissen darum herum, hängende Ampeln an der niedrigen Decke. Ihr Vater hatte es ihr geschenkt. Daher würde sie nichts stehlen. Sie nahm nur etwas mit, das ihr gehörte.

Nein – sie stahl doch etwas. Jenen Moha, einen Sklaven von den Waldinseln, den ihr Vater vor einer Ewigkeit erworben hatte. Aber das musste sie tun. Sie brauchte jemanden, um das Schiff zu segeln. Sie hatte ihm die Freiheit versprochen, hatte ihm versprochen, ihn zurück zu bringen auf seine Insel. Falls sie diese jemals wiederfinden würden, natürlich. Aber... sonst würde sie ihn eben auf einer anderen Insel absetzen. Kamaluq nannten sie ihn. Sein wirklicher Name war viel länger und umständlicher. Aber vielleicht würde er es ihr nicht übel nehmen, dass sie weiterhin Kamaluq zu ihm sagte, weil sie seinen wahren Namen nicht aussprechen konnte.

Farline und Froboscha würden Vorräte kaufen. Sie vertraute den beiden, obwohl sie sie kaum kannte. Aber sie kannte ja auch ihren Liebsten nur ganz wenig. Und Kamaluq. Und eigentlich kannte sie nicht einmal diese Merhibam, die all das tat. Aber sie musste diesen Menschen vertrauen. Hatte niemand anderen als sie. Heute noch lag sie in den seidenen Kissen eines Bettes. Aber das war schon nicht mehr ihr Bett. Sie lag in den marmornen Hallen eines Palastes, der in nicht Palast war, trug das kostbare Nachtgewand eines Mädchens, das nicht sie selber war. Nicht mehr. Gleich, was morgen geschah – sie würde nicht mehr zurückkehren.

Du wolltest, dass ich hier bleibe, dass ich mein Leben weiterlebe, Arved. Du dachtest, das ginge so einfach. Du könnest mich von meinem Schiff verschleppen, mir den Verstand rauben, mein Herz stehlen, meine Unschuld nehmen und mich dann zurücksetzen in meinen goldenen Käfig. Und nun, Vogel, sing dasselbe Lied wie zuvor! Aber ich bin kein mechanischer Vogel mit Esmeralden und Almandinen. Ich bin lebendig, habe ein Herz und einen eigenen Willen. Wie wenig du mich kennst! Wie wenig du weißt, wer ich bin, was ich mir wünsche.

Ich weiß nicht, ob du gekommen wärest, um mich zu holen. Du hast es mir versprochen, doch in Wirklichkeit weiß ich nicht, ob du dein Versprechen eingelöst hättest. Alles, was ich sicher weiß, ist, dass du mein Amulett nicht fortgeworfen hast, dass du es immer noch trugst, als man dich fasste. Dass du es jenen beiden Frauen gabst, denen du vertraut haben musst. Dass du wolltest, dass ich es zurückbekomme. Ich weiß, dass du dich in diesem Moment meiner erinnert haben musst. Und das genügt mir. Es muss mir genügen.

Was tust du in dieser Nacht? Hast du mein Gift erhalten? Hast du es genommen. Was hast du gedacht, als man es dir gab? Wird es die Wirkung haben, die mir die Hexe versprochen hat? Oder hat sie mich betrogen?

‚Es ist ein Frevel,' hatte sie gesagt. ‚Dass müsst ihr wissen: Ein Frevel gegen Boron. Dieser Trank verstößt gegen die Gesetze der Götter.'

„Er wird ihn doch nicht wirklich töten?" hatte Merhibam gefragt.

Doch die Hexe hatte ein rätselhaftes Lächeln aufgesetzt. „Oh doch, mein Kind. Das wird er. Sonst wäre die Täuschung nicht perfekt. Der Mann, der ihn trinkt, wird sterben..."

Merhibam setzte sich im Bett auf und starrte in die Dunkelheit. Nun hatte sie es getan, konnte nur noch warten, was sich daraus ergeben würde.

„Komm, gib mir deine Hand," hatte die Hexe gesagt. „Gib mir deine Hand, damit ich sein Bild in deinem Geiste suchen kann. Du musst mir ein Bild von ihm schenken, eine Erinnerung an ihn, und sie muss so genau wie möglich sein, damit ich weiß, wer er ist. Die Menge muss auf ein Skrupel richtig bemessen sein, sonst ist alles vergebens."

Merhibam hatte gezögert.

„Fehlt dir der Mut? Dann geh lieber, geh schnell und geh rasch. Denn Mut wirst du brauchen... in jedem Fall. Ich sagte doch schon... Es ist ein Frevel."

Rasch hatte Merhibam die Hand ausgestreckt. „Mir ist gleich, was es ist. Möge Rahja für mich bitten bei ihrem Bruder. Es ist die Erinnerung, die du willst. Muss ich sie... für immer aufgeben?"

„Für immer," hatte die Hexe gesagt.

„Hier. Ich gebe sie dir..."

Erinnerungen waren kostbar. Merhibam besaß nur so wenige. Zwei Tage Liebesglück waren kurz gewesen. Und nun waren sie noch etwas kürzer. Ein Moment fehlte dort, war ausgelöscht für immer. Doch vielleicht würden andere Erinnerungen hinzukommen, die die verlorene ersetzen. Vielleicht. Wenn die Hexe sie nicht betrogen hatte, wenn der Offizier tat, was sie von ihm erhoffte. Wenn Arved das Gift trank. Wenn alle das taten, was sie erwartete. Wenn, wenn...Merhibam legte sich zurück auf ihre Kissen, drehte sich auf die Seite und biss sich in den Handknöchel. Sie dachte an das Boot, wo Kamaluq auf sie warten würde, dachte daran, wie sie in der Abenddämmerung den Anker lichten und in die Bucht hinaussegeln würde. In die Freiheit. In die Ungewissheit. Nur an diesen Augenblick wollte sie denken. Nicht an das Davor oder Danach. Denn dieser Augenblick stand ihr am klarsten vor Augen. Alles, was davor geschehen mochte, verdeckten die Nebel der Ungewissheit.

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Perlenmeer Teil 3: BoronWo Geschichten leben. Entdecke jetzt