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„Das ist vollkommen unmöglich!" Entschieden schüttelte Amar den Kopf. "Niemand darf die Gefangenen sehen bis zum Tag der Hinrichtung. Und der ist bereits übermorgen."

„Bitte!" Merhibams Herz schlug so rasch, dass ihr schwindelte. „Ich bin seine Frau! Seid ihr verheiratet, Herr Kommandant?"

Amar drängte das Bild, das ungerufen in ihm aufsteigen wollte, zurück. „Das tut nichts zur Sache. Wenn ihr ihn wirklich geheiratet habt – so war das ein Fehler. Er ist ein schlechter Mann."

Merhibam fühlte, wie ihre Unterlippe zu zittern begann. „Nicht für mich, „ sagte sie. „Für mich war er ein guter Mann. Ich versprach ihm die Treue, und das kann ich nicht bereuen. Würde eure Frau nicht Nämliches über euch sagen? Würde eure Frau nicht ebenfalls kommen, und euch noch einmal sehen wollen? Würde sie nicht anders Abschied nehmen wollen von euch, als auf einem riesigen Platz in Mitten einer jubelnden Menge, einer Masse, die das bejubelt, was einem schier das Herz zerreißen will...?"

„Frau!" unterbrach er sie. „Das hat keinen Sinn. Regeln sind Regeln!"

Mit einer hastigen Bewegung zog sie eine Kette unter ihrem Gewand hervor. Sie war aus Gold und in den Fassungen leuchteten rote Almandine. Sie streifte das Schmuckstück über ihren Kopf und warf es auf den Tisch. Dazu legte sie zwei passende Armbänder, ebenfalls Almandine in Gold gefasst. „Hier... das alles soll euch gehören!"

Sein Gesicht verfärbte sich vor Zorn. „Für wen haltet ihr mich, Weib? Für einen goldgierigen, bestechlichen Menschen? Da sieht man, welchen Umgang ihr habt! Nicht jeder Mann ist ehrlos, nicht jeder bestechlich. Ich bin ein Offizier des Großfürsten, und meine Treue ist nicht käuflich, noch ist meine Ehre aufzuwiegen mit Gold und Edelsteinen. Nehmt eure Diebesbeute und geht, rasch, bevor ich euch verhaften lasse!"

Voller Verzweiflung zog sie sich die Kutte über den Kopf und schleuderte sie in die Ecke. Darunter trug sie nur ein hauchdünnes Seidengewand, ein Nichts, die Kleider einer Rahjani. Nur dass sie schwarz waren wie die Nacht.

„Ich wollt meinen Schmuck nicht? Nun... dann nehmt mich. Ich bin keine Kurtisane noch habe ich je meinen Körper verkauft. Ich schwöre bei allen Zwölfen, dass ich nur einen einzigen Mann erkannt habe in meinem Leben. Für ihn werde ich alles tun. Nehmt mich. Macht mit mir, was immer euch beliebt, nur..."

Entsetzt griff er nach der Kutte, warf sie ihr zu. „Bedecke dich, Weib. Was für schlechte Menschen du kennen musst, dass du solches von mir glaubst. Du hast gefragt, was meine Frau täte. Sie würde niemals solches für mich tun, weil ich es nicht zuließe. Nimm dein falsches Priestergewand und geh mit der Erkenntnis, dass es noch Anstand gibt unter den Menschen."

Da brach sie in Tränen aus. Sie hielt den schwarzen Stoff an ihre Brust gedrückt wie ein kleines Mädchen eine Puppe. Sie weinte nicht, wie eine Frau weint, sondern wie ein einsames Kind, mit stoßweisen Schluchzern, am ganzen Körper bebend.

Er hatte die Tür aufreißen, nach dem Wächter rufen, sie hinausstoßen wollen. Doch jetzt plötzlich brachte er es nicht fertig. „Sieh mal," sagte er begütigend. „Ich bin der Kommandant der Festung. Ich bin für die Regeln hier verantwortlich. Und ich kann dich nicht zu ihm lassen. Es wäre auch nicht gut. Geh nach hause und fang an zu trauern. Und komm übermorgen nicht auf den großen Platz. Es ist besser, wenn du das nicht siehst. Behalte ihn so in Erinnerung, wie du ihn das letzte Mal gesehen hast."

Sie wischte sich über das nasse Gesicht, konnte aber weder die Tränen zurückhalten noch aufhören zu schluchzen. „Wollt ihr ihm sagen, dass ich hier war?" stieß sie hervor. „Wollt ihr das wenigstens tun für mich? Dass er weiß, dass ich gekommen bin?"

„Ja," brummte er. „Das kann ich tun. Wenn es euch den Abschied erleichtert..."

„Oh... wenn ihr zu ihm geht. Wenn ihr ihm Worte sagt von mir... über mich. Könnt ihr... wollt ihr vielleicht... " Merhibam zog den Inhalt ihrer Nase hoch und schluckte einen letzten Schluchzer hinunter. Dann zog sie einen kleinen Gegenstand aus den Falten ihres Seidengewandes. Es war ein Fläschchen aus Kristall, groß wie sein Daumen, glitzernd von all den vielen Facetten, die man hineingeschliffen hatte. Oben war es durch einen winzigen Korken verschlossen. Sie streckte ihre Hand aus, hielt ihm das Fläschchen entgegen. „Wenn ihr nicht nur ein Mann von Ehre seid, sondern auch ein Herz habt – bitte... gebt ihm das von mir."

Zögernd nahm er es in die Hand. „Was soll das sein?"

Sie sah ihn an. Ihre Augen waren gerötet und das Gesicht nass von Tränen. „Es enthält ein Gift," sagte sie. „Mein letztes Geschenk an ihn. Ich tue es für... das Kind, das ich von ihm haben werde. Damit ich ihm später nicht sagen muss, sein Vater sei auf dem großen Platz in Stücke gerissen worden. Ich will ihm sagen, sein Vater sei... gestorben wie ein Mann. Ich weiß, dass auch das gegen die Regeln verstößt. Aber ich habe nichts, was ich verlieren könnte. Er ist verurteilt zum Tod und seinen Tod soll er bekommen. Was ändert es für euch, ob er den Tod von meiner Hand erhält, in Würde stirbt, oder in Stücke gerissen wird? Wenn ihr es irgend mit eurem Gewissen vereinbaren könnt – so gebt ihm einen gnädigeren Tod. Wenn nicht... so sagt ihm wenigstens, was ich tun wollte..."

Er starrte auf den kleinen Gegenstand aus Kristall und auf das verweinte Mädchen, das plötzlich wieder sprach zu ihm, wie eine Frau, wie eine Frau, die älter war als ihre Jahre. Plötzlich war ihm wirklich, als sei es seine Frau, seine Schwester, sein ältester Freund, der da vor ihm stand. Seine Finger schlossen sich um den Flaccon.

„Ich werde darüber nachdenken," sagte er. „Und jetzt geht."

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Perlenmeer Teil 3: BoronWo Geschichten leben. Entdecke jetzt