Kapitel 7

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~ Ethan ~

Es ist wahr, dass Sommertage wie im Flug vergehen.
Ich arbeitete nun seit einer Woche mit Olivia im Restaurant und ehrlich gesagt lief es auf einer freundschaftlichen Ebene ziemlich gut zwischen uns, abgesehen von den Momenten, in denen unsere Meinungen aufeinanderprallten und wir uns stritten.
Und das passierte oft. So ziemlich jeden Tag.

Olivia war das genaue Gegenteil von mir.
Sie war liebevoll, bescheiden und respektvoll gegenüber ihren Mitmenschen, was man von mir nicht behaupten konnte. Ich war schon immer ein ziemlich kaltherziger und direkter Mensch.
Wohl eine Eigenschaft, die ich von meinem Vater geerbt hatte. Das schien in unserer Familie die Norm zu sein.
Während der Woche, in der ich mit Olivia arbeitete, hörte ich ständig von ihr, dass ich verwöhnt sei, weil mein Vater viel Geld hatte und das war oft der Grund für unsere Auseinandersetzungen.
Sie war nicht zufrieden damit, dass ich den Kunden keinen schönen Abend gewünscht hatte, weil ich meine Arbeitsaufgaben nicht perfekt erledigt hatte, und vieles mehr. Ständig störte sie irgendwas an meinem Verhalten.
Doch das kümmerte mich nicht.
Ich hatte nicht vor, mich für irgendjemanden zu ändern, und schon gar nicht für sie.

Als Olivia ins Restaurant kam, war ich bereits dort und befüllte gerade den Kühlschrank mit Getränken. Ich hatte die Frühschicht übernommen, da ich abends mit einem Mädchen ausgehen wollte.
Ich warf einen kurzen Blick in ihre Richtung und nickte als Begrüßungsgeste.
- Hi - murmelte sie leise vor sich hin.
Etwas schien heute anders zu sein.
Normalerweise nervte mich ihre ständige gute Laune und ihr positives Auftreten, selbst an einem Montagmorgen. Doch heute schien sie das genaue Gegenteil von gut gelaunt zu sein.
Als ihr Arbeitskollege fand ich es irgendwie amüsant, sie ein wenig zu ärgern.
Ich ging also zu ihr und stieß leicht mit meinem Ellenbogen gegen ihre Hüfte.
- Ist unsere Livi heute schlecht gelaunt? - grinste ich sie frech an.
Olivia blickte in meine Richtung, und ich erwartete schon eine schlagfertige Antwort von ihr, etwas wie "Halt die Klappe", aber stattdessen schüttelte sie nur den Kopf.
- Lass das heute, Ethan - antwortete sie.
Etwas stimmte heute definitiv nicht, und ich konnte es einfach nicht lassen, nachzuhaken.
- Ist alles in Ordnung? - fragte ich diesmal ernst.
Sie starrte eine Weile still auf den Boden, sodass ich ihr Gesicht nicht sehen konnte.
Schließlich jedoch brach es aus ihr heraus:
- Vor einer Woche hatte ich Streit mit meinem besten Freund, weil er eine Grenze überschritten hat. Seitdem habe ich nicht mehr mit ihm geredet. Heute hat sich seine Mutter bei mir gemeldet und erzählt, dass er seitdem mit seltsamen Leuten abhängt. Jetzt fühle ich mich schuldig - sie schaute zu mir hoch, und ich bemerkte, dass ihre Augen feucht wurden, als würde sie gleich weinen.
Ich fühlte mich unbeholfen, da ich nicht daran gewöhnt war, dass sich Leute vor mir öffneten, und ich wusste nicht, wie ich sie trösten sollte.
- Wird schon, Olivia - brachte ich schließlich heraus. Peinlich.
Ich hätte sie wenigstens umarmen können oder so.
Aber andererseits hatte ich Angst, eine Grenze zu überschreiten. Wir waren ja nur Arbeitskollegen.
Sie schenkte mir ein gezwungenes Lächeln, bevor sie in die Umkleide ging, und beiläufig sagte:
- Danke, Ethan.

Ein seltsames Gefühl stieg in mir auf. Normalerweise machte ich mir nie Gedanken um die Gefühle anderer Menschen, aber heute, bei ihr, war alles anders.
Ich wünschte mir tatsächlich, dass sie sich besser fühlte, und es tat mir leid, dass ich ihr nicht wirklich helfen konnte. Ich machte mir Sorgen um sie.
Das beunruhigte mich ehrlich gesagt.
Ich durfte keine Gefühle für dieses Mädchen entwickeln. Das würde nicht gut enden.

~ Olivia ~

Seit dem Vorfall mit Noah war eine Woche vergangen, und kein Tag verging, an dem ich nicht an das Geschehene dachte. Trotzdem versuchte ich, mich auf die Arbeit zu konzentrieren und die Sommerferien ein wenig zu genießen.
Äußerlich konnte man mir eigentlich nicht anmerken, dass etwas meinem Kopf beschäftigte.
Nun ja, bis heute.
Kurz vor meinem Arbeitsbeginn erhielt ich einen Anruf von Noahs Mutter. Sie bat mich, mit ihm zu reden, da er seit unserem Streit in die falsche Richtung abzudriften schien. Er fing an, sich mit seltsamen Leuten anzufreunden und angeblich auch Drogen zu nehmen.
Das war nicht der Noah, den ich kannte. Gelegentlich hatte er ja mal einen Joint geraucht, aber das, was seine Mutter mir erzählte, bereitete mir Sorgen. Und auch Schuldgefühle.
Ja, dieser Kuss von ihm war verdammt falsch gewesen. Aber es war nicht so, als hätte er es absichtlich getan, um mich zu verletzen.
Jetzt hatte ich das Gefühl, als wäre unsere Freundschaft, selbst wenn wir uns wieder vertragen würden, nicht mehr dieselbe wie zuvor.
Ich konnte nicht aufhören, darüber nachzudenken, warum er das getan hatte. Lag es an den Hormonen? Hatte ich ihm falsche Signale gesendet? Stand er etwa auf mich?

- Olivia! - riss mich die Stimme von Ethan aus meinen Gedanken.
- Entschuldigung, ich war ein wenig in Gedanken versunken. Was ist? - fragte ich ihn.
Seitdem ich ihm vor ein paar Stunden von der Situation mit Noah erzählt hatte, war er besonders seltsam. Keine seiner üblichen dummen Sprüche oder Versuche, mich zu ärgern.
Es schien, als würde er heute besonders sensibel mit mir umgehen, weil er wusste, dass es mir ohnehin schon schlecht ging.
- Ich habe gleich Feierabend. Kommst du alleine klar?
- Klar, danke - erwiderte ich auf Ethan's Frage.
Er schenke mir ein unsicheres Lächeln. So, als würde er sich nicht ganz sicher sein, ob ich wirklich alleine klarkommen würde.
Um ihn zu versichern, dass es wirklich so ist, nahm ich das Tablett, das auf der Bartheke lag und ging zu den Gästen, die grade neu dazugekommen sind.
Ich nahm deren Bestellung auf.
Während Ethan mich anstarrte, drückte ich ihm das Blatt mit der Bestellung in die Hand.
- Einmal bitte der Küche bescheidgeben - fügte ich noch hinzu.
Er verdrehte seine Augen und murmelte leise vor sich hin:
- Also geht es dir wohl besser.
- Das habe ich gehört! - schrie ich hinter ihm her, während er zur Küche ging.

Es war noch nicht viel los im Restaurant, weshalb ich beschloss die Tische draußen, auf unserer Tarasse zu putzen.
Ich schnappte mir einen Putzlappen und machte mich auf den Weg.
Gerade als ich an der Eingangstür vorbei gehen wollte, um zu der Tarasse zu gelangen, sah ich jemanden, den ich eigentlich garnicht sehen wollte. Noah stand vor dem Restaurant.
Mein Herz blieb stehen.
Ich knallte den Putzlappen gegen den nächststehenden Tisch und lief durch die Tür mit voller Wucht nach draußen.

Er sah mich bereits an, während ich noch in seine Richtung lief und irgendwas in mir sagte, das ganze würde schlecht ausgehen.
- Was machst du hier? - ich blieb kurz vor ihm stehen, sodass wir einen gewissen Abstand haben würden.
Er sah schlimm aus.
Würde ich ihn nicht kennen, hätte ich erstmal gedacht, dass es irgendeiner zufälliger Junkie ist.
Seine Augen waren rot, genauso wie seine Augenringe und sein Gesicht blass wie eine Wand.
- Ich wollte reden - kam aus ihm heraus.
Ich könnte eindeutig merken, dass er auf irgendwas drauf war. Ich verabscheute solche Leute und wollte mich immer davon fernhalten. Desto mehr tat es mir weh, dass es mein bester Freund war.
- Noah, wir werden reden. Aber nicht jetzt, ich bin bei der Arbeit - zischte ich durch meine Zähne, sodass es niemand mitbekommen könnte.
- Nein, jetzt - sagte er mit etwas lauterem Ton und packte etwas stärker an meinem Arm.
-Das tut mir weh, lass mich bitte los - versuchte ich mich aus seinem Griff zu befreien.
Ich wüsste wirklich nicht, was in ihn gefallen ist.
Er war so anders als sonst.
Ich würde sagen sogar aggressiv mir gegenüber.
- Du bist so eingebildet. Ich habe nicht mal was schlimmes getan und die Prinzessin tut jetzt auf beleidigt. Fick dich, Olivia! - jetzt schrie Noah durch die ganze Gegend.
Die Gäste im Restaurant schauten durchs Fenster raus und beobachteten die ganze Situation.
Es fühlte sich für mich an, als würde meine Welt zusammenbrechen. Ich wüsste, dass wenn Noah jetzt nicht weggehen würde, würde die Chefin das ganze mitbekommen und mich kündigen.
- Bitte, Noah. Gehe jetzt einfach - sagte ich leise, während aus meinen Augen immer mehr Tränen kamen.

Plötzlich hörte ich nur einen Knall.
Vor Angst schloss ich meine Augen.
Ich spürte nur, dass Noah meine Hand endlich losgelassen hatte.
Ich wusste nicht, ob ich sie lange geschlossen hatte, aber es fühlte sich wie eine Ewigkeit an.
Als ich sie öffnete, sah ich Noah, der sich mit beiden Händen an der Nase hielt. Durch seine Finger floss Blut und neben ihn stande Ethan mit komplett verbluteten Hand.
Hat Ethan grade Noah eine reingehauen?
- Seid ihr komplett bescheuert?! - schrie ich die beiden an.
Ich wüsste nicht welchem von beiden es mehr unangenehmer war, aber beide schauten mich total beschämt an.
- Fässt du sie noch einmal an, hacke ich dir deine beiden Hände ab - zischte Ethan zur Noah.
Ich starrte Ethan komplett verwirrt an, als er an mir vorbeiging, mir leicht auf die Schulter klopfte und leise sagte:
- Es tut mir überhaupt nicht leid. Das hat er sowas von verdient - dann stieg er in sein Auto und verschwand schneller, als man es sehen konnte.

Die ganze Situation überforderte mich völlig.
Es fühlte sich an, als ob mein Leben gerade in tausend Scherben zerbrochen war.
Ich war mittendrin in diesem Chaos, zitterte vor Schock und konnte nicht aufhören zu weinen.
Ich guckte verheult zur Noah rüber.
- Verpisst dich von hier - sagte ich noch zur ihm, bevor ich das Restaurant betrat.

Measure of time  Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt