Kapitel 16

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~ Ethan ~

- Bis nächste Woche! - hörte ich die Stimme meiner Chefin, als sie die Türe des Restaurants schloss.
Das Restaurant war bereits leer, alle waren nach Hause gegangen. Nur Olivia und ich waren noch da, um alles für den nächsten Tag vorzubereiten und es zu schließen.
Es war eine große Verantwortung, aber unsere Chefin vertraute uns sehr, deshalb übernahmen wir diese Aufgabe.

Während ich damit beschäftigt war, die Gläser zu polieren, stürzte Olivia herein, beladen mit zwei großen Kartons.
Hektisch stellte sie die ab.
- Sind die neuen Schürzen - sagte sie, ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen.
So hatte sie sich den ganzen Tag verhalten. Seit unserem Gespräch hatte sie mich gemieden und kaum mit mir gesprochen. Nur das Allernötigste.
Nun war es irgendwie selbstverständlich, schließlich hatte ich sie wirklich höllisch verletzt, und das nicht zum ersten Mal.
Ich fand den ganzen Tag über keine Gelegenheit, nochmals mit ihr zu sprechen, denn auf der Arbeit war zu viel los. Doch jetzt, da wir endlich alleine waren, schien es der perfekte Moment zu sein.
- Können wir reden? - fragte ich und schaute sie flehend an.
Sie schloss die Augen und seufzte schwer.
Sie wirkte total genervt von mir, und es war mir auch klar, dass ich die letzte Person auf der Erde war, mit der sie jetzt gerne sprechen wollte...
Aber ich konnte es nicht einfach so sein lassen.
Nicht, wenn es um sie ging.
- Okay - erwiderte sie plötzlich.
Ich war überrascht, denn ich hatte nicht gedacht, dass sie direkt zustimmen würde.
Eigentlich hatte ich erwartet, dass sie alles tun würde, um nicht mit mir zu sprechen.
Genau deshalb nutzte ich schnell die Gelegenheit, bevor sie noch ihre Meinung ändern könnte.
Ich sprang hoch und setzte mich auf die eine Kante der Theke. Olivia stellte sich mir gegenüber, die Arme vor der Brust verschränkt.
Sie sah trotz der viel zu großen Schürze und ihrer durchgewühlten Haare wunderschön aus.
Ich konnte nicht begreifen, wie ich ihr das antun konnte... und genau deshalb hasste ich mich dafür.
- Es tut mir schrecklich leid. Ich bereue es unglaublich, denn ich hatte nie die Absicht, dich zu verletzen... - begann ich und machte eine kleine Pause, um tief Luft zu holen.
Ich war nicht bereit, meine Gefühle vor ihr zu äußern. Es kam mir vor, als würden wir uns dafür zu kurz kennen, und ich wusste nicht, wie sie reagieren würde, doch ich wusste, es war notwendig um Olivia zurückzugewinnen:
- Du bist einfach in mein Leben getreten und hast mich innerhalb von drei Wochen zu einem anderen Ethan gemacht, der sich um die Gefühle anderer sorgt. Das hat mir solche Angst gemacht, dass ich versucht habe, mir und auch den anderen zu beweisen, dass ich immer noch der alte, eiskalte Ethan bin.

Ich schluckte schwer.
Es hatte mich viel Mut und Nerven gekostet, meine Gefühle vor Olivia auszusprechen. Denn ich war nicht daran gewöhnt, die "weiche" Seite von mir zu zeigen, nicht einmal vor meinen engsten Freunden oder meiner Familie.
Wie hat dieses Mädchen nur geschafft, so ein Weichei aus mir zu machen?
Jetzt bekam ich Olivias Aufmerksamkeit, und sie schaute mich an – das erste Mal überhaupt an diesem Tag.
- Du willst mir erzählen, du sorgst dich um die Gefühle anderer Menschen, nachdem du gestern mit Vanessa gevögelt hast, und das nachdem wir uns gestern fast geküsst hätten? - fauchte sie wütend.
- Zwischen uns ist nichts passiert. Vanessa hat mich geküsst, aber ich habe es nicht erwidert. Danach bin ich sofort gegangen - wisperte ich.
Es war die Wahrheit.
Ich hatte Vanessa, nach der ganzen Situation, alleine im Badezimmer zurückgelassen und verließ sofort die Party.
Dennoch war mir bewusst, wie falsch es war, überhaupt mit ihr mitzugehen. Ich hätte die scheiße von Anfang an sein lassen sollen.

Nach meinen Worten konnte ich eine Art Erleichterung in Olivias Augen sehen.
- Ihr habt also nicht...? - sie beendete den Satz nicht, aber ich verstand, was sie meinte.
Entschlossen schüttelte ich den Kopf als Antwort auf ihre Frage.
Sie biß sich leicht auf ihre Unterlippe.
Wahrscheinlich ungewollt, aber verdammt.. war es heiß. Der Gedanke, sie zu küssen ließ mich seit gestern nicht los, auch jetzt nicht.
- Ich weiß, dass wir nicht zusammen sind oder nicht mal daten, aber sowas macht man nicht, Ethan. Nicht, nachdem man fast ein Mädchen geküsst hätte, das dich echt mag - sagte sie enttäuscht und fuhr dabei mit ihrer Hand durch ihre Haare.
Mein Herz fing an schneller zu schlagen.
Sie hat's wieder gesagt.
Sie hat gesagt, dass sie mich mag, und diesmal lag es sicherlich nicht am Alkohol.

Ich konnte nicht anders, als zu grinsen.
Denn in diesem Moment funkelte ein bisschen Hoffnung in mir. Hoffnung, dass sie mir verzeihen könnte und dass ich die Chance kriegen würde, ihr zu zeigen, wie ich wirklich war. Ihr zu zeigen, dass sie mir wichtig war und dass ich alles tun würde, um die Dinge zwischen uns wieder gut zu machen.

~ Olivia ~

FUCK.
Ich konnte kaum glauben, dass ich diesem Arschloch, das mein Herz gebrochen hat, gerade gesagt hatte, dass ich ihn mag. Zum zweiten mal schon.
Das war eigentlich nicht meine Absicht gewesen. Ich wollte ihm nur ein schlechtes Gewissen machen, kein Liebesgeständnis oder so.
Ich war einfach so unglaublich sauer auf ihn, und wollte am liebsten gar nicht zur Schicht kommen, nur um ihn zu vermeiden.
Aber jetzt, als er vor mir stande mit seinem perfekten Aussehen, wurde ich einfach zu weich.
Ich dachte, er hätte wenigstens zwei Minuten verdient, um mir zu erklären, warum er das überhaupt getan hatte.

Ich merkte, wie er grinste.
Ich wusste, dass es ihm gefallen hatte, von mir zu hören, dass ich ihn mag. Ich denke, er empfand auch dasselbe für mich, wollte es aber nicht zugeben.
Wie könnte er auch? Der eiskalte Ethan zeigt doch keine Gefühle.
- Du hast mich trotzdem sehr verletzt, und eine Entschuldigung kann es nicht wieder gut machen. Ich brauche Zeit - machte ich ihm deutlich.
Sein Gesichtsausdruck änderte sich in einer Sekunde. Das Grinsen verschwand, sein Kiefer spannte sich an, und sein Blick wurde... leer.
- Okay, die gebe ich dir - antwortete er.
Ich gab ihm einen fragenden Blick, denn er schaute nicht besonders begeistert davon, mich für ein paar Tage oder sogar Wochen in Ruhe zu lassen.
Er sagte jedoch nichts mehr, sondern schenkte mir nur ein schiefes Lächeln.

Und damit war auch das Gespräch für ihn beendet.
Zumindest schien es so.
Es gab noch so viel, was ich ihm sagen wollte, aber nach seiner Antwort stand er auf und setzte seine Arbeit fort, die Gläser zu polieren. Ich wollte ihm nicht hinterherlaufen, also machte ich ebenfalls meine Aufgaben weiter.
Ich dachte, wir würden bestimmt noch eine Gelegenheit an dem Abend haben, um miteinander zu sprechen, aber es schien so, als würde Ethan jetzt versuchen, mir aus dem Weg zu gehen.
Und ich verstand nicht warum.
Ja, ich hatte ihm gesagt, dass ich Zeit brauche, aber es kam mir so rüber, als würde er mir nur aus dem Weg gehen, weil er sauer oder enttäuscht war, dass ich ihm nicht direkt vergeben habe. Und genau das war das Problem. Er hatte Mist gebaut und erwartete, dass er mit einem einfachen "tut mir leid" alles wieder gutmachen könnte. Aber so funktionierte das nicht.
Deshalb musste er an sich arbeiten und vieles ändern. Sehr vieles.

Eine halbe Stunde später schlossen wir bereits das Restaurant.
Ich murmelte ein leises „Ciao" vor mich hin, als wir uns verabschiedeten, und er erwiderte es ebenso.
Und das war's.
Er verschwand in seinem BMW, und ich fuhr mit meinem Fahrrad nach Hause.
Die Unsicherheit nagte an mir. Unsere nächste gemeinsame Schicht war erst in vier Tagen.
Würde das bedeuten, dass wir in dieser Zeit absolut keinen Kontakt haben würden?
Und was danach? Konnte ich in der Lage sein, ihm noch eine Chance zu geben?
Gott... Manchmal denke ich, wie viel einfacher mein Leben wäre, wenn ich mich damals einfach woanders beworben hätte.

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