36 • Alles eine Frage der Perspektive

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Er ist weg.

Er ist tatsächlich wieder weg.

Meine Gedanken sind nur noch ein wildes Durcheinander und meine Gefühle sind so vernebelt, dass ich nicht einmal die bloße Zeit einschätzen könnte, die ich paralysiert an diesem Fleck gestanden habe, ohne mich zu bewegen.

Ich hätte schauen können, in welche Richtung er gegangen ist. Wahrscheinlich nur zurück in unser Haus zur Party. Wahrscheinlich wäre seine dunkle Gestalt in der Dunkelheit nur weiter verschwommen. Ich hätte es trotzdem versuchen können, aber stattdessen reagiert mein Körper auf Nichts. Nicht einmal jetzt. Erst als er schon längst verschwunden ist, schaue ich in der Hoffnung vielleicht doch noch etwas zu erkennen über meine Schulter. Wie erwartet hat er keine Spur hinterlassen - wie auch? Ich erhasche nur den kurzen Blick auf zwei dunkle Silhouetten auf unserer Veranda.

Es dauert einen Moment bis mich meine von der Kälte steifen Fingergelenke daran erinnern, dass ich tatsächlich auch eine Reaktionsfähigkeit besitze. Der Gedanke an die Kälte setzt sofort eine Gänsehaut auf meine Arme. Kalte Luft ausschnaufend lege ich meine Arme um mich. Unterbewusst versuche ich wahrscheinlich zu testen, ob ich eine ähnliche Wärme auf mich selbst ausstrahlen kann, wie er zu vor mit seiner Umarmung, aber das funktioniert natürlich nicht. Enttäuscht lasse ich meine Arme dann wieder sinken und trotte ein Stückchen weiter weg von der Party.

Romeo hat recht, vielleicht sollte ich bei der grauenhaften Beleuchtung nicht alleine hier draußen herumstehen. Zwar habe ich noch keine gruselige Story aus dieser Nachbarschaft gehört, aber das heißt Nichts - ich könnte die Erste sein.

Um trotzdem genügend Abstand von all diesem Trubel zu bekommen, setze ich mich ohne großartig nachzudenken einfach auf den Bürgersteig gegenüber von uns, darauf hoffend, dass Ivers Eltern nicht früher nach Hause kommen und mich hier vor ihrem Haus sitzen sehen. Erstens würden wir alle ziemlich in der Klemme stecken und zweitens sieht es für mich etwas komisch aus. Aber das ist gerade auch egal.

Ein raues Seufzen entfährt mir beim Hinsetzen und ich widerstehe dem Drang verzweifelt durch meine Haare zu fahren und damit ein unwiderrufliches Chaos mit den Blumen in diesen zu verursachen. Jetzt langsam sackt die Realität immer tiefer in meinen Knochen, umso schwerer fühlen sie sich an.

Dieses Mal ist es nicht nur eine wilde Vermutung von Cassie, die ich schnell mit der Aussage abtun kann, dass das nur irre Theorien sind. Dieses Mal hat er es mir direkt in mein Gesicht gesagt: Er mag mich.

Und ich weiß nicht, wieso mich dass so sehr schockt, wie es tut.

Überraschend kommt es eigentlich nicht.

Zugegeben hat Cassie mit ihren Theorien schon immer recht gehabt, auch wenn ich ihr nicht unbedingt mündlich zugestimmt habe. Vielleicht mag ich es mir nie wirklich eingestanden haben, aber es hat von Anfang an ziemlich viel Sinn gemacht.

Es ist nicht so, als hätte ich die Hinweise die ganze Zeit nicht wahrgenommen oder als hätte mein Kopf es nicht verstanden, es ist eher so, dass ich solche Anzeichen einfach gekonnt ignoriere und komplett ausschalte. Das ist schon immer so gewesen. Gefühlsumschreibungen und Anzeichen deuten sind noch nie mein Ding gewesen. Ich sehe sie zwar, aber ich übersehe sie. Ich weiß nicht, ob diese Art Dinge zu ignorieren mit einer komischen Art von Angst vor Konfrontation zusammenhängt, aber Fakt ist: Es kann so offensichtlich sein, wie der Himmel über unseren Köpfen, aber weil ich es umgehe nach oben zu schauen, ist er für mich zwar irgendwie existent, weil mir Menschen davon genügend erzählen, aber weil ich nicht nach oben schauen will, da der Himmel mir zu hell scheint, kann ich mir nichts Konkretes darunter vorstellen, da eine blaue Fläche mit fluffigen Wolken viel zu surreal klingen. Ergibt das überhaupt Sinn?

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