Schuld und Sühne

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Ich verließ Eleonore vor Morgengrauen und erreichte noch bevor die Sonne durch den Nebel gebrochen war, das Lager. Ein Schleier einem Leichentuch gleich ruhte über dem kalten Platz. Wie passend, denn was war es anderes als ein großer Friedhof?

„Sie sind früh hier, Herr Standartenführer", bemerkte einer der Aufseher, Stieglitz. Ein Sadist. Ich hatte ihn schon bei meinem ersten Aufenthalt hier nicht leiden können.

Ein leises „Hm" war das einzige, das ich zur Antwort gab, bevor ich mich richtig an ihn wandte. „Bringen Sie mir 3542."

Seine Augenbrauen schossen in die Höhe. „Jetzt? Weshalb –?"
„Stellen Sie keine dummen Fragen. Machen Sie, was man Ihnen sagt."

Ich hatte weder Zeit noch Lust mich mit seinen Fragen auseinanderzusetzen, also ließ ich ihn damit stehen. Es gab jetzt wesentlich wichtigeres zu tun, auf dass es sich vorzubereiten galt. Stattdessen ging ich zu Hauser, von dem ich wusste, dass er um diese Uhrzeit bereits hier sein würde und klopfte an die Tür zu seinem Büro.

Dieses hier war die größere Hürde und wenn ich sie hinter mich bringen könnte, wäre der Rest ein Kinderspiel. Nun ja, fast.

„Herein – Ah, Schäfer Sie sind's. Setzen Sie sich doch." Hauser war in irgendwelche Unterlagen vertieft und beachtete mein Hereinkommen nur kurz. „Haben Sie ein wichtiges Anliegen."

„Nun –"

In diesem Moment klingelte wie zur Antwort das Telefon auf seinem Schreibtisch. Hauser verzog mürrisch das Gesicht. Dass er um diese Zeit schon arbeitete schien ihn nicht daran zu hindern, an anderen, die das taten, Anstoß zu nehmen.
„Hauser", meldete er sich wenig erfreut und bedeutete mir kurz zu warten. „Wen? 3542? Hm... ja, verstehe."

Hauser legte auf und ich zog fragend eine Augenbraue hoch.

„Ein Untersturmführer Liebel von der Gestapo. Die wollen die Freilassung von 3542 erwirken, der Schwester dieses Flüchtigen. Kovač?"

„Katić. Weshalb? Ich wollte eben noch mit ihr reden und sie zur Flucht ihres Bruders befragen." Ich runzelte die Stirn.

„Na wieso wohl? Die wollen sie überwachen und hoffen, dass sie sie direkt zu ihrem Bruder führt – und im Idealfall noch mehr von diesem Geschmeiß. Wenn nicht, kriegen sie ihre Antworten immer noch auf anderem Weg", antwortete Hauser mit einer wegwerfenden Handbewegung.

Was er mit dem „anderen Weg" meinte, musste ich nicht fragen, denn wir beide kannten die Methoden der Gestapo. Der bloße Gedanke daran legte sich als ein metallisch-süßer Geschmack von Blut und Fäulnis auf meine Zunge.

„Verstehe. Klingt nach einem vernünftigen Plan. Nach meinen Einschätzungen weiß sie nicht viel. Überwachung ist vermutlich wesentlich sinnvoller als Folter." Wie beiläufig setzte ich noch ein „Darf ich rauchen?" nach, auch wenn es eigentlich überflüssig war, denn Hauser hatte nie verneint und schließlich rauchte er selbst. Aber der Respekt gebot es nun einmal.

Der Kommandant nickte bloß, woraufhin ich endlich den Geschmack von Tabak den des Todes vertreiben lassen konnte.

„Hm... ich mag es nicht mit welcher Selbstgefälligkeit sich die Gestapo unserer Häftlinge ermächtigt", meinte er und verzog die Lippen. Ich hatte früher schon einmal etwas von alten Animositäten und Rivalitäten gehört, was ihn betraf. Vermutlich ging es Hauser hier vielmehr darum – ums Prinzip – als dass ihn Milenas Freilassung wirklich kümmerte. Wieso sollte sie auch?

„Nun, dann lassen Sie mich um die Sache kümmern. Ich werde die Sache im Auge behalten und darauf achten, dass Ihr Beitrag in der Zerschlagung dieser Widerstandszelle entsprechend gewürdigt wird. Machen Sie sich also keine weiteren Gedanken – ich kümmere mich um die Causa Katić", meinte ich so nüchtern wie möglich, doch die Finger, die die Zigarette hielten, mussten eiskalt sein. Ich spürte das ganze Gewicht des Lebens, mit dem ich hier spielen musste.

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