Operation Walhalla

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Nacht lag über Berlin. Eine kalte fremde Stadt. Nacht lag über dem Haus. Einem unscheinbaren mit rötlicher Fassade. Nacht lag über dem Raum. Einem kleinen, der von einer seltsamen Unruhe erfüllt war. Gemurmelten Worten. Einem Körper, der im Schlaf zuckte, sich auf seinem Platz hin und her warf.

„Wir spielen jetzt verstecken, ja? So wie früher. Und du darfst keinen Mucks von dir geben. Du willst doch gewinnen oder?" Um ihre Lippen spielt ein zartes Lächeln. Warm. Aber besorgt. Nur deswegen stimme ich zu. Ihr zu liebe. Ich bin doch viel zu alt für solche kindischen Spiele.

Schwere Schritte. Das Zerspringen von Glas. Gebellte Befehle. Wer ist das? Was wenn sie mich finden? Wo ist Mama? Wo sind die anderen?
Doch die Schritte passieren ihr Versteck. Kurz darauf Schreie.
Mama wird an den Haaren durch den Raum gezerrt. Papa folgt. Sein Gesicht ist blutig. Woher das Blut? Wieso ist er verletzt?

Ich sehe alles durch einen winzigen Spalt meines Versteckes.
Mein Bruder...wo ist mein Bruder?
Ich will raus, helfen. Aber Mamas Blick sagt mir, dass ich still sein soll. Ich erinnere mich an ihre Worte und bleibe an meinem Platz.

Lachen. Wieder die Schritte. Irgendwo...ein lauter Knall? Ein Schuss? Stille. Ich bin alleine.
Zitternd krieche ich aus meinen Versteck. Ich habe gewonnen, wie sie es wollte, so wie ich immer in diesem dummen Spiel gewonnen habe. Aber ich bin alleine. Ich habe alles verloren.

Marlene wurde aus ihrem Schlaf gerissen. Ihr Herz klopfte wild in ihrer Brust. Warum musste sie ausgerechnet heute davon träumen? Doch es war nicht der Schmerz, nicht ihre eigenen Tränen, die sie geweckt hatten. Sondern ein Geräusch. Bewegungen. Eine Stimme.

Instinktiv fasste sie unter das Kissen - und natürlich ins Leere. Dort war keine Waffe. Sie war nicht zu Hause. Sie war an einem völlig fremden Ort.

Natürlich, sie war heute nicht alleine. Wann hatte sie das letzte Mal nicht alleine geschlafen? Genau genommen, nie. Denn selbst, wenn sie so einige Nächte in Gesellschaft verbracht hatte - in Gesellschaft verbringen musste - sie hatte in der Gegenwart dieser Menschen, ihres Feindes, nie wirklich geschlafen. Wie hätte das auch möglich sein sollen?

Umso befremdlicher war es nun aufzuwachen und festzustellen, dass sie nicht alleine und auch nicht in ihrer Wohnung war, sondern zusammen mit Amon Schäfer, dessen unruhige Träume sie nun aus dem Schlaf rissen. Sie hatte das erste Mal in Anwesenheit ihres Feindes geschlafen.
Doch dieses Mal war es schließlich auch etwas anderes.

Albträume? Was verfolgte ihn denn im Schlaf? Die gemurmelten Worte waren unverständlich. Ein Name vielleicht? Jedenfalls würde sie so nicht wieder einschlafen können.

Langsam schwang sich Marlene aus dem Bett, ging auf den Sessel zu, in dem Amon eine Decke über den Beinen schlief und berührte ihn an der Schulter. „Schäfer, wach auf."

Reflexartig schloss sich seine Hand fest um ihr Handgelenk, noch bevor er die Augen öffnete und verwirrt blinzelte.
„Du hast schlecht geträumt", erklärte Marlene leichthin. „Sehr lautstark."
„Ich wollte dich nicht wecken", antwortete er mit vom Schlaf rauer Stimme.
„Dafür müsste ich schlafen wie ein Stein. Du kannst mich jetzt übrigens wieder loslassen. Wie du siehst hatte ich nicht vor, dich im Schlaf zu töten." In ihren letzten Worten schwang ein Hauch von Amüsement mit.

Er reagierte sofort, doch in seinem Blick erkannte sie, dass auch er ihr ansah, dass sie bisher keine ruhige Nacht hinter sich hatte. Waren die Anzeichen so deutlich? Oder war sie bloß noch so verwirrt und es zu dunkel im Raum, als dass sie seine Mimik noch richtig hätte deuten können? Ja, vielleicht sah sie Dinge, die nicht existierten.

Marlene wollte sich schon abwenden. „Also, schlaf gut...oder zumindest ruhig", murmelte sie gähnend, während sie sich wieder ins Bett verkroch. Ihr gesamter Körper sehnte sich nach Schlaf. Und seltsamerweise fühlte sie sich hier mehr oder weniger sicher. Zumindest sicher genug, um sich richtig auszuruhen. Schließlich war Amon auch der erste Nazi mit dem sie - wenn auch auf andere Art - die Nacht verbrachte, der wusste, wer sie wirklich war und sie dafür dennoch nicht auf der Stelle töten wollte.

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