Zwischen Vergangenheit und Gegenwart

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Entschuldigt dieses komisch kurze Kapitel, aber es hat absolut nicht zum nächsten gepasst. Also müsst ihr damit jetzt leben ^^"

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Das sollte es also gewesen sein, dachte ich seufzend, als wir beide in einem nun verlassenen, verstaubten Gebäude mitten in Berlin aufwachten. Zu unserer Beruhigung war es das zumindest wirklich. Beinahe hatte ich befürchtet, dass wir gleich wieder Schmidt in die Arme laufen würden – oder immer noch Amons Blut den Boden verfärbte. Ich schauderte.

Warum wir überhaupt hier waren, war mir schleierhaft. Denn strenggenommen, war niemand aus der Vergangenheit hier gelandet und demnach müssten wir auch nicht hier sein und ... Ich bekomme schon wieder Kopfschmerzen.

Warum musste dieses verdammte Zeitreisen auch so verwirrend sein?

Ich hätte vollkommen erleichtert sein sollen, dennoch war da diese leise Trauer in meinem Inneren, dass ich niemanden von damals je wiedersehen würde. Wie man es auch drehte und wendete – und ich wusste, ich würde es nicht wagen, darüber zu recherchieren, um mich selbst vor einer möglicherweise hässlichen Wahrheit zu schützen – heute waren mit Sicherheit die allermeisten von ihnen tot. Und wenn nicht, war es meistens besser, sie würden uns nicht begegnen. Ich wollte nicht für irgendjemandes Herzinfarkt verantwortlich sein.

„Na endlich", meinte Ricarda, sich genüsslich streckend. „Der Spuk ist vorbei, wir können nach Hause und ich muss nie wieder was von 1939 hören, außer von Frau Hinrichs."

„Sag mal ... hast du die Fotos noch?", fragte ich leise.
Ricarda zog eine Augenbraue hoch. „Welche Fotos?"
„Na die, die du von uns gemacht hast. Von Amon und Marlene ..."
Obwohl ihr Gesicht deutliche Zweifel ausdrückte, kramte sie ihr Handy aus der Tasche und scrollte durch ihre Galerie. Irgendwann schüttelte sie den Kopf. „Nope. Alles weg. Immerhin war er nie hier."
Mir entkam ein leiser Seufzer. Eigentlich logisch.

„Ell, muss ich dich daran erinnern, dass er fast zwanzig Jahre älter ist als du? Und heute sogar fast hundert?", fragte Ricy, die Arme vor der Brust verschränkend. „Genau genommen, könnte er nicht mal nur dein Vater sein, sondern dein fucking Uropa."

„Danke, nein", blaffte ich augenrollend zurück. Als hätte ich diese Erinnerung gebraucht. Mir war mehr als klar, wie viel Zeit uns trennte. Selbst wenn wir uns in derselben befanden, stand sie spürbar zwischen uns.

Ja, es war dämlich. Ich war dämlich. Eigentlich hätte ich damit glatt Bullshit-Bingo für den durchschnittlich Love Interest aus einer Wattpadgeschichte oder irgendeinen historischen Liebesroman spielen können.

Dunkelhaarig, blauäugig und gutaussehend? Check.
Hat ein großes Haus? Check.
Praktisch doppelt so alt wie ich? Check. Fehlte nur noch, dass er mein Lehrer war oder irgendein Lord.
Problematisch™? Check. Nazi-Vergangenheit würde ja wohl genügen.
„Ich bin nicht gut für dich"? Check? Immerhin hatte er mich mehr oder minder so abgewimmelt, wenn auch etwas weniger klischeehaft-albern formuliert.

Fazit? Ich war wohl Protagonistin in einer schlechten Wattpadstory.

Mir den Staub von der Kleidung klopfend nahm ich den Raum noch einmal in mich auf, der mir jetzt fast fremd erschien. Keines der Möbel von früher stand hier. Es war einfach nur irgendein einsamer Ort, an dem nichts von dem zeugte, was passiert war und passieren hätte können.

„Ich hätte nur gerne ein Erinnerungsstück gehabt, weißt du?", antwortete ich, jetzt wieder ernst. „Etwas, das mir sagt, dass das alles wirklich passiert ist und ich nicht einfach den Verstand verloren habe. Etwas, das mich nicht vergessen lässt."

Ricarda schüttelte den Kopf. „Vergessen? Also ich für meinen Teil bräuchte 'nen Haufen Therapiestunden, um diesen ganzen Mist vergessen zu können. Ich glaube, da hast du nichts zu befürchten. Und jetzt lass uns von hier verschwinden, bevor wir noch Ärger kriegen."

Ich nickte und warf noch einen letzten Blick zurück in das alte Hauptquartier eines neuen Führers, bevor ich ihr folgte.

*

Der Ärger kam trotzdem und er brach denkbar unschön über mich herein. Im Grunde war es ein ganzer Sturzbach an Anschuldigungen, Vorwürfen und Verzweiflungsanfällen meiner Eltern, unter dem mein gesamtes wackliges Lügengebilde dramatisch einstürzte.

Nun gut, nicht das gesamte, denn die meisten Lügen waren irgendwo im Äther der unterschiedlichen Zeitlinien verschluckt wurden. Sie konnten mir nichts über diesen ominösen französischen Austauschschüler vorwerfen oder dass ich in der Schule wirr von einem nicht existenten Schüler gesprochen hatte. Was ihrer Meinung nach in den letzten Wochen passiert war, wusste ich nicht genau ... was eigentlich schon beunruhigend genug war.

Nur langsam füllte sich mein Gedächtnis mit den Erinnerungen, die da hätten sein sollen und in heftigem Kontrast zu meinen gelebten standen.

Aber sie waren zumindest meiner Ausrede für diesen Abend auf die Schliche gekommen: nämlich, dass ich nicht bei Ricarda übernachtet hatte.

„Hör mal", meinte meine Mutter irgendwann, ein wenig ruhiger. „Du bist alt genug, um selbst Entscheidungen zu treffen. Aber wir haben doch gemerkt, dass dich in letzter Zeit irgendetwas belastet ... und jetzt lügst du uns an, wohin du gehst und kommst völlig schmutzig nach Hause. Wir machen uns Sorgen."

„Ich ... Ich war nur ...", setzte ich an, doch mir wollte keine gute Notlüge einfallen, also gab ich es seufzend auf. „Ich ... Es tut mir leid, aber ab heute wird sich das alles ändern. Es wird alles wie früher. Versprochen."
Darauf mussten wir es nach langen Diskussionen beruhen lassen. Was hätte ich ihnen auch sagen sollen? Die Wahrheit?

Erst als ich mich unter meiner Bettdecke verkrochen hatte, kam mir vollkommen zu Bewusstsein, was in den letzten Tagen und Stunden geschehen war. Dass für mich Amon, Marlene und die anderen von einer Minute auf die andere gestorben waren und ich nie wieder mit ihnen reden könnte. Oder eigentlich doch, was es vielleicht noch viel schlimmer machte: Theoretisch gab es auf dieser Welt einen Weg zurück, eine Brücke zwischen uns. Nur durfte ich sie nie wieder überschreiten.

Vor kurzer Zeit noch hatte ich mich gefürchtet, einzuschlafen, weil ich wusste, dass ich 1939 aufwachen würde. Jetzt fürchtete ich mich albernerweise ein wenig davor, dass das nie wieder passieren würde. Es war verrückt und dumm, doch diese Gewissheit trieb mir Tränen in die Augen, die in den Stoff meines Kissens sickerten, bis ich eingeschlafen war.

*

Der Wecker, der mich nächsten Morgen aus dem Schlaf riss, war gnadenlos und schrill wie immer. Stöhnend und nicht besonders geschickt, versuchte ich ihn zum Schweigen zu bringen, fiel dabei allerdings fast aus dem Bett. Fängt ja schon mal gut an ...

Auf meinem Display leuchtete viel zu grell eine Nachricht von Paul auf:
Heute nach der Schule steht noch? :) 
 
Wir hatten uns verabredet? Warum? Wofür? Mein müder Kopf konnte sich nicht recht erinnern, doch er wollte glauben, dass das alles ein gutes Zeichen war. Alles war in Ordnung und ich musste mich um nichts sorgen. Außer das verdammte Abi. 

Richtig, vage tanzte eine Erinnerung vor meinem inneren Auge. Lernen. Paul wollte doch mit mir lernen. Immerhin waren meine ohnehin grottigen Mathezensuren auf einen neuen Tiefpunkt gerutscht und meine letzte Note in Französisch, das ich eigentlich immer gemocht hatte, war nur wenig besser gewesen, weil zwischen Vergangenheit und Gegenwart kaum Platz für solche Dinge wie Vokabel und Grammatik gewesen war. Passenderweise beides Fächer, in denen Paul Heinicke Einserschüler war. Andererseits: wo war er das nicht? 

Seufzend tippte ich ein Klar! oder hoffte zumindest, dass ich das abschickte und nicht irgendwas Peinliches, das die Autokorrektur daraus fabriziert hatte. Die Memes, die Ricarda mir irgendwann um zwei Uhr morgens geschickt hatte, beschloss ich später anzusehen.

Ich schnappte mir mit noch halb geschlossenen Augen, die Kleidung, die ich gestern müde über den Stuhl geworfen hatte, nur um sie sofort angewidert in den Wäschekorb zu stopfen. Warum verdammt war die so schmutzig? Was hatte ich denn gestern angestellt?

Mühsam versuchte sich mein noch träger Verstand daran zu erinnern: Da waren Bilder eines Gebäudes voller Nazis, mit Heinrich Schmidt an ihrer Spitze und dann dasselbe leer und verlassen, doch sie flossen nahtlos ineinander. Und Amon, der Abschied von Amon. Doch, wenn ich ihn mir wieder vor Augen führen wollte, mir die Worte ins Gedächtnis rufen, waren die Bilder blass, als läge all das Jahrzehnte zurück.

Ich erinnere mich nicht richtig, stellte ich panisch fest.

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