Rückkehr

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Es dauerte nur Sekunden bis Schrift vor mir verschwamm, alles sich drehte, ich den Boden unter den Füßen verlor. Ich konnte mich nicht daran erinnern, dass es das erste Mal auch so gewesen war. Damals schien mir das ganze wie gewöhnlicher, wenn auch übermannender, Schlaf. Aber eben nur Schlaf. Das hier war wie ...

Sterben, kam mir als erstes in den Sinn, obwohl ich freilich nicht die geringste Ahnung hatte, wie es war zu sterben. Doch das Wort manifestierte sich in meinen Gedanken und biss sich mit seinen scharfen Zähnen daran fest. Was, wenn wir etwas falsch gemacht hatten? Irgendwelche Regeln gebrochen worden waren? Wir jetzt wirklich einfach verschwanden?

Mein Herz setzte einen Schlag aus.

Dann war das nichts.

Ich blinzelte und langsam nahm der Raum vor mir wieder Gestalt an, nur, war es ein anderer. Ich saß, aufrecht und mit rasendem Puls in meinem Bett – oder viel eher, das was mein Bett in Amons Haus gewesen war – und starrte in das Zimmer, das unverändert vor mir lag. Ganz wie früher. Durchs Fenster fielen die ersten, blassen Sonnenstrahlen. Es war alles so unfassbar gewöhnlich, dass ich mich für eine Sekunde fragte, ob das alles nur ein böser Traum gewesen sein konnte.

Amon in unserer Zeit, Gerhardt, Schröder, Schmidts Machtergreifung ... nichts als ein verflucht realistischer Traum. Wenn, dann wohl ein böser Traum in einem bösen Traum. Denn 1939 aufzuwachen, war nicht gerade das, was man als positiv bezeichnen konnte.

Dennoch ... Für einen Moment erschien mir das alles unwahrscheinlich.

Auf dem Stuhl in der Ecke lag die Kleidung, die ich vor Monaten, die hier nur gestern waren, getragen hatte. Derselbe Ort, an dem ich mit Amons Jacke um meine Schultern weinend eingeschlafen war. Wie lange war das nun her? Gestern, morgen, heute, jetzt – all das verschwamm in meinem Kopf zu einem unentwirrbaren Chaos.

War diese Zeitreiserei einfach zu kompliziert für ein menschliches Gehirn, das in solchen Parametern dachte, oder musste ich mich auf Nebeneffekte unserer Entscheidung gefasst machen? Immerhin war diese Reise zurück doch schon ein möglicher Eingriff in die Vergangenheit – also jetzt – also 1939 – und dadurch veränderte sich potentiell die Gegenwart beziehungsweise Zukunft und die Zukunft, die nach dieser Gegenwart kam.

Jetzt verwirrst du dich schon selbst Elly! Würde jetzt jemand deine Gedanken lesen, könnte er diesen Unsinn nicht mal entwirren, wenn er ein Genie wäre.

Simpler ausgedrückt: Hatte unsere Entscheidung schon einen Einfluss, auf jedes weitere Geschehen? Und wenn ja, beeinträchtigte das unsere Erinnerung daran, was ursprünglich geschehen war? Oder würden wir uns immer, als irgendwie außerhalb der Zeit stehende, an alles genau erinnern?

Alles Dinge, die wir nicht bedacht hatten. Großartig.

Unten ihm Haus vernahm ich Schritte. Ohne weiter darüber nachzudenken, warf ich die Decke zur Seite, eilte aus dem Zimmer, die Treppe hinab und landete Amon praktisch direkt vor den Füßen. Wortwörtlich, denn er stand so nahe an den Stufen, das ich an der letzten abrupt innehalten musste, und beinahe vornüber runtergekippt wäre. Vor meinem geistigen Auge sah ich mich schon in dem dampfenden Kaffee in seiner Tasse gebadet. Doch gerade im letzten Moment hielt ich mich noch auf den Füßen.

Amon sah aus wie immer, in ganzer Uniform, mit akkurat gescheiteltem Haar, so als wäre es so bereits aufgestanden. Mittlerweile war er mir so, wie ich ihn eigentlich kennengelernt hatte, und die meiste Zeit kannte, fast fremd. Der Anblick versetzte mir einen Stich in der Magengrube.

Wie angewurzelt blieb ich vor ihm stehen, als sein Blick auf mich fiel. Ich wünschte, ich hätte darin lesen können, welcher Amon das gerade war. Aber natürlich, der alte Amon von 1939. So musste es doch sein, oder?

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