Geheimnisse einer Familie

959 72 36
                                    

Wecker. Genervtes Stöhnen. Gequält aus dem Bett fallen... Ach, ich glaube, ihr kennt das Spiel mittlerweile. Im Übrigen sah mein Morgen immer recht ähnlich aus. Ähnlich unerfreulich. Amon machte es da absolut nicht besser. Abgesehen davon, dass unser seltsames Gespräch vom letzten Abend noch irgendwie zwischen uns zu schweben schien, konnte er sich seine Kommentare auch heute nicht verkneifen, was zumindest dazu führte, dass ich ersteres kurzzeitig vergessen konnte. 

"Also gut, gleich nach der Schule besuchen wir meine Großmutter. Verspäte dich also nicht", erinnerte ich ihn, als wir uns verabschiedeten, "und häng nicht mit komischen Leuten ab, ja?"
"Abhängen?", fragte Amon deutlich verwirrt.
"Das heißt so viel wie Zeit verbringen." Schon komisch, etwas so selbstverständliches erklären zu müssen. 
"Und was hat das mit hängen zu tun?"
"Ähm... na ja... also... ach, was weiß ich!", antwortete ich etwas hilflos. Wer machte sich denn auch schon darüber Gedanken? "Wenn ich mich jetzt nicht beeile, komme ich zu spät. Also, bis dann." Noch ehe er etwas erwidern konnte, lief ich auch schon. Ich fiel ohnehin schon oft genug unangenehm auf. Zu spät zu kommen hätte mir gerade noch gefehlt. Dann hätte Frau Hinrichs vermutlich die ganze Stunde nur einen Vortrag darüber gehalten, dass so etwas doch ganz einfach ein unmögliches Verhalten war, obwohl es viel schlimmeres und wichtigeres auf der Welt gab als das.

Hastig lief ich zu meiner Klasse, nur um eine kleine Versammlung davor festzustellen, die aus drei Jungs und Paul bestand - und mir schon auf den ersten Blick nicht gefiel. Einer davon, der größte, packte ihn gerade am Kragen und drückte ihn unsanft an die Wand. Was er zu ihm sagte, konnte ich nicht hören, doch es sah nicht danach aus als wäre es etwas Freundliches gewesen.

Paul? In Schwierigkeiten? Dass er nicht unbedingt zu den Beliebtesten zählte, wusste ich. Wie ich selbst, blieb er eher für sich und manche Idioten, die das aber im Übrigen bei jedem taten, meinten manchmal dumme Sprüche zu klopfen. Eigentlich harmlos. Dass man ihn aber ernsthaft bedrohte, war mir neu. Und diese Kerle aus der Parallelklasse meinten es offensichtlich todernst.

War denn kein Lehrer hier? Hilfesuchend sah ich mich um, doch der Flur war wie ausgestorben. Kein Lehrer, keine anderen Schüler.

Ricarda steckte ihren Kopf aus der Klasse. "Elly, da bist du ja endlich!"
Ich achtete gar nicht richtig auf sie, sondern wog ab, was jetzt die klügste Entscheidung war.
Ricarda, die das sofort bemerkte, blickte nun auch überrascht zu Paul und den anderen. "Was ist denn da los?"
"Keine Ahnung...aber-"
"Misch dich da besser nicht ein. Die Stunde fängt doch sowieso gleich an. Wenn ein Lehrer das sieht-"
Ihre Worte wurden von einem unverkennbaren Geräusch unterbrochen. Ein Schlag.

"Okay, jetzt reicht's", zischte ich, ehe ich wütend zu der Gruppe stapfte. Wütend genug, um zu vergessen, dass das, was ich hier tat, vielleicht nicht die klügste Entscheidung war, die ich in meinem Leben getroffen hatte.
"Elly, warte", hörte ich Ricarda noch hinter mir, aber es war zu spät.
"Gibts irgendein Problem?", fragte ich die drei schneidend kalt.
"Nein", meinte einer.
"Und wenn, ginge das nur uns und den kleinen Nerd hier was an", setzte ein anderer mit einem süffisanten Grinsen nach und klopfte Paul auf die Schulter.

"Lasst ihn in Ruhe", erwiderte ich kalt, ohne überhaupt auf ihre Worte einzugehen, was eher weniger Wirkung zeigte.
"Hast ja ne süße Freundin gefunden", stellte der dritte fest, der bisher geschwiegen hatte.
"Ich bin nicht seine-" Nicht der richtige Moment dafür, Elly. "Solche Sprüche könnt ihr euch sparen. Verzieht euch einfach."
"Lass gut sein. Ich...komm schon klar", kam es mit einen gequälten Lächeln von Paul, dessen Gesicht den eindeutigen Beweis trug, dass dem absolut nicht so war.

"Ja, genau so sieht's auch aus", gab ich nüchtern zurück. In mir kochte immer noch der Zorn. Letztendlich hatte ich mich bei Nazis durchschlagen müssen, war dem Tod vermutlich mehrmals nur gerade so von der Schippe gesprungen und hatte sogar einen Gerhardt von Wilder k.o. geschlagen. Da machten mir diese drei halbstarken Idioten wirklich keine Angst mehr.
"Jetzt hört mal zu, ihr Pfeifen. Ich sag's nur noch einmal, verschwindet", knurrte ich gefährlich leise, mit einer Kälte in der Stimme, die ich gar nicht kannte, und funkelte den, der wohl sowas wie ihr Anführer war an, während ich mich bedrohlich vor ihm aufbaute.

Plötzlich in neuen Farben?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt