12 ♛ Liebesbriefe

108 17 17
                                    

Lieber Elio,

Wie sehr wünschte ich mir, dass du hier bei mir wärst. Du würdest es wie immer schaffen, mich in diesem kompletten Chaos beruhigen zu können.

Tilia ist schwierig - sie widersetzt sich gefühlt jeder Sache und ich weiss noch nicht, ob dies eine Anfangsphase ist, oder sie einfach einen solchen Charakter hat.
Von ihrer Familie - den Gregors - habe ich sowieso noch nie etwas gehört, weiss vielleicht Glenn etwas?

Und Neil bricht mir mein Herz. Auch wenn ich dachte, dass ich langsam aber sicher abgehärtet sei - Bullshit.
Zwar wurde er Blight zugewiesen, aber trotzdem könnte ich jedes Mal, wenn ich sein unsicheres und ängstliches Gesicht am Tisch gegenüber sehe - in Tränen ausbrechen.

Ich wünschte, du wärst hier.
Bitte erzähle mir in deiner Antwort irgendetwas. Egal was - zum Beispiel, wie sich die "nichts-ernstes-Beziehung" von Glenn und Tobias entwickelt. Oder ob Zach schon wieder einmal beim Kochen Tante Augustine's schönes Geschirr kaputtgemacht hat.
Oder schon nur, ob Victoria den Pullover mittlerweile fertig stricken konnte - oder Onkel Wyll es endlich mal geschafft hat, einen Tag frei zu nehmen.

Aber am allermeisten interessiert es mich, wie es dir geht.
Ich hasse es, so lange von dir getrennt zu sein - ich hasse es, dass wir kein normales Leben in Distrikt 7 führen können. Zusammen. Einfach zusammen.

Ich bin nicht sonderlich gut in Liebesbriefen, geschweige denn Gedichten.
Du kennst dich in Worten tausendmal besser aus als ich - das war schon immer so.
Und doch kannst du stets aus mir hinauslesen, was ich fühle und sagen möchte - und zwar ohne dass ich es sagen muss.

Ich liebe dich, Elio.
Und am liebsten würde ich aus diesem scheiss Zug springen und zurück nach Distrikt 7 rennen. Egal wie lange es dauern würde.

Grüss alle von mir!
Ich vermisse sie.

In Liebe
Ayleen

Leise seufzend faltete ich das beschriebende Blatt Papier zusammen und steckte es in den schon beschrifteten Briefumschlag.
Lehnte mich mit glasigen Augen auf meinem Stuhl zurück und schaute an die triste, graue Decke meines Zugwaggons.

Trotzdessen, dass ich während der Zugfahrt der 72. Hungerspiele vor Panik und Schock fast durchgedreht war - kam mir diese Fahrt hier viel langsamer vor. Träge. Fast schon im Schneckentempo.

Heute Nachmittag würden wir zwar im Kapitol ankommen - also waren es nun nur noch wenige Stunden - und doch kam es mir vor, als würde der Sekundenzeiger in Minutenschnelle vorwärtsgehen.

Das Frühstück vorhin verlief katastrophal. Tilia schmiss Tulip ein mit Himbeermarmelade bestrichenes Brötchen genau in ihr Gesicht - und das bloss, weil sie nach Tilia's Eltern gefragt hatte.

Nachdem Tulip sie mit Wörtern beschimpft hatte, von welchen ich niemals gedacht hätte, dass sie sie kennen würde - wurde Tilia in ihr Abteil geschickt.
Seither war sie wohl dort geblieben, denn ich hatte sie nirgens im Zug gesehen.

Neil hingegen sass schon länger mit Blight im Wohnzimmer-Waggon - sie schauten sich Bücher und Videos über Überlebensmethoden an.
Er schien interessiert zu sein - hatte uns stolz erzählt, wie oft er mit seinen Freunden im Wald auf den Bäumen umhergeklettert war.
Vielleicht hatte ich zu schnell die Hoffnung verloren - jedenfalls versuchte ich mir dies verzweifelt einzureden.

Müde schaute ich in meinem chaotisch aussehenden Schlafzimmer um. Klamotten lagen umher - leere Snacktüten oder Bücher.
Schmerzlich erinnerte mich dies an das Zimmer gegenüber von mir - damals, als ich an Tilia's Stelle gewesen war.

"Nein... nein, nein... hör auf...",flüsterte ich mir selbst zu und schüttelte den Kopf - schloss die Augen und legte meine Hände auch gleich noch davor.
Ich durfte nicht an ihn denken. Nicht wenn ich nicht noch einen Zusammenbruch erleiden wollte, wie etwa gestern Abend.

Ich konnte mir gut vorstellen, dass Präsident Snow oder Seneca Crane dies eingefädelt hatte - die für mich schmerzlichsten Szenen aus den 72. Hungerspielen zusammen zu schneiden.
Als ich daran dachte, wie dies wohl für Glenn zu Hause hatte sein müssen - unterdrückte ich ein Schluchzen.

War es egoistisch von mir, so sehr zu kämpfen zu haben mit dem Mentoren-Job? Vielleicht war es das.
Ich musste keine Angst davor haben, nicht mehr lebendig nach Hause zu kommen - wie etwa Tilia oder Neil. Oder alle anderen 22 Tribute.

Ich musste nicht in einer Arena ums Überleben kämpfen, im Dreck schlafen oder keine Arznei für Wunden bekommen.
Nein, ich würde in einem luxuriösen Hotel schlafen können - umgeben von gutem Essen, Partys und anderen Mentoren.

Müsste ich vielleicht einfach bloss lernen, damit umzugehen?
Für einen Moment erschien es mir auf einmal einfacher - vielleicht müsste ich einfach abgehärtet werden, so wie Blight. So wie Johanna, Jaspir oder Finnick Odair.
Sie hatten sicherlich keine Nervenzusammenbrüche.

"Reiss dich zusammen...",murmelte ich leise für mich und schüttelte den Kopf - ehe ich meine Hände wieder von den Augen nahm und in das Licht des Schlafzimmers blinzelte.

Nachdem ich noch einmal tief durchgeatmet hatte, stand ich auf und trat aus meinem Schlafzimmer hinaus. Durch den Gang. Bei Blight und Neil vorbei, bei welchen mich Blight kurz anlächelte - zu den Abteilen der Tribute.

Doch bevor ich an die Tür von Tilia's Zimmer klopfte, zögerte ich.
Konnte ich mit ihr reden?
Ich musste.

Ich klopfte an die Tür und räusperte mich kurz.
"Tilia, kann ich reinkommen?"

Einen Moment herrschte Stille und ich hatte schon Panik, dass sie irgendeinen Weg aus dem Zug gefunden hatte.

"Wozu?" Ihre Stimme klang gedämpft - aber abweisend.
Ja, wozu wollte ich zu ihr?
Um ihr Kraft und Strategien zu geben, bevor sie in eine Arena gehen musste und 23 Kinder ermorden musste.
Um ihr irgendwie zu sagen, dass sie sich so im Kapitol nicht aufführen konnte - und dass sie sich nicht aufgeben durfte.

"Darf ich bitte einfach reinkommen?",fragte ich dann also etwas ungeduldig und wieder herrschte einen Moment Stille.

"Du gehst nicht von der Tür weg wenn ich nein sage, oder?"
Nun bildete sich ein leichtes Grinsen auf meinen Lippen - über ihre sarkastische Antwort.
"Nein.",antwortete ich also etwas entspannter und froh darüber, dass sie mich nicht komplett abwies.

"Meinetwegen, komm rein. Aber bitte halte mir die Saphirtulpe vom Hals."

Ayleen Fox | Leben als MentorinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt