13 ♛ Lindenblüten

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Das erste, woran ich dachte, als ich in das Zimmer von Tilia eintrat - war ein Schlachtfeld.
Überall lagen Klamotten umher, Dekogegenstände und alles, was hier drinn seinen Platz gehabt hätte. Teilweise zerbrochen. Zerzaust.
Ich musste nicht lange überlegen, um zu verstehen, dass dies das Ergebnis mehreren Wutanfällen war.

"Was, ist es dir hier etwa zu wenig luxuriös? Kannst gerne wieder rausgehen.",erklang die abweisende Stimme von Tilia, als ich wohl etwas zu lange umhergeschaut hatte.

Warscheinlich erwartete sie Zurechtweisung - sie erwartete, dass ich sie auf das Chaos ansprach oder sie beschimpfte, weshalb denn hier alle umherlag.
Sie erwartete, dass ich ebenso wütend werde, wie sie.
Doch ich liess dies beiseite.

"Darf ich mich setzen?"
Tilia hob eine Augenbraue an und betrachtete mich misstrauisch. Sie selbst sass schon im Schneidersitz auf der chaotisch liegenden Bettdecke auf ihrem Bett.

"Hm.",machte sie bloss als Antwort und wendete dann den Blick von mir ab.
So ruhig wie möglich setzte ich mich zu ihr auf das Bett und schwieg einen Moment - ehe ich zu ihr rüberschaute.

Ihr Blick war starr ins Leere gerichtet. Ihre Gesichtszüge angespannt - ich hatte sie wohl noch nie entspannt oder fröhlich gesehen.
Wie viel Wut konnte ein Mensch in sich drinn tragen? Meiner Erfahrung nach tonnenweise.

"Du hast Tulip's Make-Up ziemlich verdorben, übrigens. Sie kam für eine halbe Stunde nicht mehr aus dem Bad raus!",versuchte ich es mit Humor - doch ich bekam keine Reaktion von Tilia.
Weiterhin schaute sie mit kaltem Blick weg.
So funktionierte es also auch nicht.
Vielleicht mit Verständnis?

"Okay, ich kann verstehen, dass du wütend bist, aber..."
"Bullshit."

Etwas erschrocken schaute ich zu der Blonden rüber, als sie mich so abrupt unterbrach.
Zögerte - und runzelte nachdenklich die Stirn.

"Ich verstehe es nicht?",fragte ich vorsichtig und war um ehrlich zu sein bloss froh, dass Tilia endlich ein Wort sagte.

"Nein. Einen Scheiss verstehst du. Einen Scheiss versteht irgendjemand."
Tilia schüttelte den Kopf und runzelte die Stirn - für einen ganz kurzen Moment sah ich etwas in ihrem Gesicht, was von ihrer Wut sonst überschattet wurde; Trauer.

"Ich nehme an, du hast schon einige Male versucht, mit jemandem darüber zu reden, nicht wahr?",fragte ich sie mit einem schwachen Lächeln auf den Lippen.
"Ja."

Ich nickte langsam und schaute einen Moment ebenso ins Leere. Ein kleiner Schmerz durchfuhr mich, während ich daran dachte, was wohl Tilia alles bisher hatte erleben müssen. Es musste einen Grund dafür haben, dass sie so wütend reagierte, wenn man nach ihren Eltern fragte.

"Und es fühlt sich an, als würden die ganze Welt dich nicht verstehen, oder?",riet ich leise und versuchte, nicht wie jeder andere mit Tilia zu reden. Auf ihre Wut antwortend - ohne Verständnis.

"Du denkst, dass du es nicht mehr probieren solltest. Ich war auch mal an diesem Punkt. Niemandem mehr trauen, niemanden mehr an dich heranlassen - denn entweder verletzen sie dich oder du sie."
Langsam aber sicher erreichten meine Worte den Effekt, welchen ich bei Tilia erreichen wollte - sie schaute aus dem Augenwinkel in meine Richtung.

"Aber darf ich dir in diesem Thema einen Ratschlag geben? Nur einen."
Ich sah, wie Tilia zögerte - mit sich rang. Ihr Gesichtsausdruck sagte Nein - und doch zuckte sie ganz leicht mit den Schultern.

"Gib es nicht auf. Gib nicht auf, Leute an dich heranzulassen. Du kannst durchaus wählerisch sein - aber bitte, kapsel dich nicht ab. Es wird dir tausendmal schlechter gehen, als wenn der Ursprung jemand anderes ist."

Meine Augen brannten ein wenig, als ich sah, wie Tilia sofort den Blick abwendete. Wusste, dass es ihr zu nahe gegangen war. Sah, wie ihre Hände zitterten. Hörte ein ganz leises, schwaches und überaus bitteres Lachen.

"Was hat das alles denn jetzt noch für einen Wert? Ich bin in gut zwei Wochen tot. Dann muss ich diesen ganzen Scheiss ja nicht mehr ertragen."

Diese Worte fühlten sich wie tödliche Explosionen in meinem Herzen an - weshalb ich Tilia einen Moment etwas entgeistert anstarrte.
Das war es also.
Mein Herz setzte ein Schlag aus und ich musste kurz tief durchatmen. Überforderung durchflutete mich.

"Du darfst auch das nie aufgeben..."
"Bullshit!"
Tilia stand abrupt von ihrem Bett auf und starrte mich mit wutverzerrtem Gesicht an. Ihre Augen waren glasig, aber sie gönnte es sich nicht, zu weinen - dies sah man nur allzu gut.

"Tilia..."
"Nein, Ayleen Fox! Neil wird sterben - warscheinlich als Spass richtig brutal von den Karrieros beim Blutbad am Anfang. Ich werde sterben. Wie genau weiss ich nicht - aber das ist letztendlich auch scheissegal! Wir beide werden sterben, und weisst du auch warum? Weil es so sein wird. Du weisst das und auch Blight weiss das! Sogar die scheiss Saphirtulpe weiss das, aber sie scheint es ja sogar noch zu freuen! Also komm mir nicht mit deinen scheiss Weisheiten, welche ich gebraucht hätte, bevor ich gezogen wurde, klar?!"

Ihre Stimme war mit jedem Wort gleichzeitig lauter und ebenso brüchiger geworden. Ihre Hände zitterten, während sie kopfschüttelnd umher sah - ausser sich vor Verzweiflung.

Ich war zu weit gegangen - auch wenn ich gar nicht gewusst hatte, was für einen Weg ich bei Tilia einschlagen wollte. Oder war ich zu schnell? Zu fordernd?
Wie konnte ich es richtig machen? Ich wusste es nicht. Ich wusste nicht, ob ich überhaupt etwas hier in diesem Moment noch richtig machen konnte.

"Möchtest du, dass ich gehe?",fragte ich schliesslich mit heiserer Stimme und konnte das Mädchen vor mir nicht mehr anschauen. Diesen Schmerz, welchen in ihrem Gesicht in leuchtenden Grossbuchstaben stand.

"Ja, bitte."

Ich nickte. Fast automatisch stand ich vom Bett auf - musste einem Schuh am Boden ausweichen, während ich schweigend Richtung Tür ging.

Doch dann blieb ich noch einmal stehen. Verzog das Gesicht und drehte mich zu Tilia um. Für eine Sekunde hatte ich noch gesehen, wie sie sich schnell ein paar Tränen weggewischt hatte - doch gleich wieder starrte sie mich angespannt an.

Ich öffnete den Mund und wollte etwas sagen. Ich wollte ihr sagen, dass sie stark sein musste. Sie musste durchhalten. Durchhalten wollen. Denn wenn sie einmal aufgab, dann war sie tot.
Dass sie letztendlich überhaupt keine Chance hatte, wenn sie sich so verhielt.

Doch wie sagte man dies einem Mädchen wie Tilia? Einem Mädchen, welches scheinbar schlauer war, als mehr als die Hälfte des Distriktes? Ganz Panem?
Einem Mädchen, welches eins und eins zusammenzählen - und sich nicht auf diese scheinheilige Hoffnung verlassen konnte?

"Ich sage einer Avox, sie solle dein Zimmer aufräumen kommen... In einer halben Stunde gibts Mittagessen."

Ayleen Fox | Leben als MentorinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt