9 ♛ Ruhe vor dem Sturm

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Früher war in Distrikt 7 meine Lieblingsbeschäftigung gewesen - dass ich mit Elio durch die schier unendlichen Wälder spaziert war.
Oder wir uns bei unserem Lieblingsplatz hingesetzt, geredet hatten oder sogar einfach nebeneinander in entspanntes Schweigen verfallen waren.

Manchmal verfluchte ich mich selbst, dass ich mein Leben damals nicht genossen hatte. Diese ruhigen Momente, in welchen alles okay zu sein scheint - oder man es jedenfalls so in sich aufnehmen konnte.

Heutzutage fiel es mir schwierig, einen solchen Moment zu finden - an manchen Tagen war es so, als würde jeder Gegenstand, jeder Geruch und jede Geste mich an irgendetwas aus meinen Hungerspielen erinnern.
Meinen Hungerspielen - es hörte sich dumm an, wenn ich dies so aussprach.

Als ich die Mentoren-Dokumente von Tulip in die Hände gedrückt bekam, wusste ich, dass es nun ernst wurde.
Ich fragte mich, ob jeder Sieger die gleichen Blätter bekam - denn in meinen war echt verdammt genau beschrieben, was ich tun musste.

Ich sollte mit Sponsoren reden und fast wie in einem Rollenspiel war geschrieben, womit ich antworten sollte, falls sie nicht an meinen Tributen interessiert wären.
Ich müsse die Zeit der Hungerspiele im Kapitol verbringen - ein ganzes Hotel bloss für Mentoren sei jedes Jahr dort eingerichtet.

Ausserdem sei gleich bei Ankunft mit den Tributen ein Fest, an welchem sich alle Mentoren unter sich trafen. Gleich vor der Wagenparade.
Der Gedanke daran, dass ich Enobaria's wütendes Gesicht wieder sehen musste, liess Gänsehaut auf meinem Körper.

Ich war froh darüber, dass ich mit Blight die ganze Sache durchziehen konnte - denn ganz alleine diese Mentoren-Zeit durchstehen, könnte ich mir nicht einmal jetzt schon vorstellen.

"Manche lesen sich das Zeug nicht einmal durch.",hatte mir Blight erzählt, während wir zusammen angefangen hatten, diesen Ordner anzuschauen.
"Es ist nicht Pflicht, ein guter Mentor zu sein. Die Tribute müssen eigentlich immer Glück haben."

Je näher die Ernte kam, desdo schlechter ging es mir.
Insgesamt hatte ich mir viermal diesen Ordner durchgelesen und hatte immer noch das Gefühl, dass ich mir überhaupt gar nichts merken konnte - geschweige denn, dass ich mir vorstellen konnte, etwas in die Tat umzusetzen.

Ich träumte davon, wie meine Tribute wegen mir in der Arena starben - ich träumte davon, wie sie während den Aufnahmen riefen; "Ich bin wegen meiner Mentorin Ayleen Fox hier drinn so wehrlos! Es ist ihre Schuld!"

Die Zeit bis dahin verging gleichzeitig viel zu schnell - und doch in manchen Momenten viel zu langsam.
Dachte wirklich daran Alkoholikerin zu werden wie Haymitch Abernathy - wie zum Teufel überlebten dies andere Mentoren?
Wäre meine Familie nicht gewesen - hätte mich mein grosser Bruder nicht fast tagtäglich auf einen Spaziergang mitgenommen, Glenn mir einen Tee gemacht und Elio die ganze Nacht an meinen Körper angekuschelt geschlafen - dann wäre ich wirklich durchgedreht.

Niemand sprach die Möglichkeit an, dass Cassidy gezogen werden könnte - doch alle fühlten es im Raum, wenn wir miteinander assen oder draussen auf der Terrasse waren.
Sie war die einzige in unserem Haushalt, welche noch nicht 18 war - und der Fakt, dass das Kapitol durchaus schon die Ernten sabotiert hatten, war wie ein Feuer, welches sich von Tag zu Tag mehr ausbreitete.

In der Woche vor der Ernte regnete es fast durchgehend wie aus Kübeln - sodass teilweise Unfälle bei der Forstarbeit geschehen waren.
Ich hatte schon oft beobachtet, wie viele Unfälle gerade vor der Ernte geschehen waren - entweder hofften manche, sie müssten wegen einer Verletzung nicht in den Lostopf oder sie passierten einfach wegen der unendlich angespannten Stimmung.

Wem auch immer ich in die Augen schaute, wenn ich durch unseren Distrikt ging - ich wusste, dass er oder sie die gleichen ängstlichen Gedanken hatte, wie die Person davor.
Der Fakt, dass so viele ihre Kinder, Geschwister, Geliebte oder Freunde auf den Bürgermeisterplatz schicken mussten, ohne zu wissen, ob sie wieder zurückkommen würden.

Am Abend vor der Ernte klopfte Tulip an unsere Tür und ich war mir ziemlich sicher, dass sie irgendwann mal erwähnt hatte, dass sie an diesem Abend mich besuchen kommen würde - aber warscheinlich hatte ich es durch die Zeit vergessen gehabt.
Ich hätte mir nämlich etwas durchaus entspannenderes vorstellen können für diesen Abend, als mit Tulip den ganzen nächsten Tag Schritt für Schritt durchzugehen.

"Um halb acht wirst du im Bürgermeisterhaus mit allen anderen Siegern erwartet...",begann sie zu erklären, nachdem wir uns an unseren Esstisch gesetzt hatten.
Sie trug eine kastanienbraune Perücke, hellbraune Strümpfe und darüber ein bronzefarbenes, fast schon für sie schlichtes Kleid. Auch geschminkt war sie für ihre Verhältnisse eher weniger als sonst.

Jedoch hatte ich ihren etwas zögerlichen Blick gesehen, bevor sie sich in unserem nunmal nicht komplett modernen Haus auf einen der Stühle gesetzt hatte.
Wir waren hier nicht im Kapitol - trotzdessen, dass wir uns im Dorf der Sieger befanden.
Aber natürlich würde sie diese Nacht schon in ihrem Zugwaggon verbringen, in welchem wir morgen ins Kapitol reisen würden. Zusammen mit zwei Tributen.

"Um acht Uhr wird die diesjährige Ernte wieder ausgestrahlt werden - du wirst mit Blight, Johanna und den anderen Siegern auf der Bühne sitzen und dem ganzen zuschauen. Kameras werden auf dich gerichtet sein."
Ich merkte den warnenden Unterton in Tulips Stimme. Ich nickte stumm und strich mit meinem Finger über die Narben an meiner Hand - wo mal zwei meiner Finger dranngewesen wären.

"Nachdem die zwei Tribute gewählt sind - werden wir alle durch das Tor des Bürgermeisterhauses gehen und Blight und du werdet in den Zug steigen. Verabschieden solltest du dich also schon vor der Ernte."
Meine Augen begannen etwas zu brennen. Auch wenn es vielleicht bloss ein Monat sein würde - man wusste nie, wie lange die Spiele gehen würden - würde ich meine Familie unfassbar stark vermissen.

Auch wenn ich Blight durchaus schon fast zu meiner Familien zählen konnte - der Gedanke daran, Elio, Glenn, Zach und die anderen während dieser Zeit nicht bei mir zu haben, liess mein Herz schmerzen.

"Im Zug werdet ihr dann eure Tribute begrüssen und sehr warscheinlich gleich mit ihnen Mittagessen einnehmen. Dann lernt ihr sie etwas kennen!",sagte Tulip mit etwas gezwängter Fröhlichkeit und machte einen kurze Pause, in welcher sie mich von oben bis unten betrachtete. Ich nickte schnell und setzte ein ebenso gezwängtes Lächeln auf.

"Auf der Fahrt ins Kapitol könnt ihr euch austauschen, mit was für Tributen ihr es zu tun habt. Blight ist erfahren und kann dir dort viel zur Seite stehen." Tulip's Stimme klang sanfter und aufmunternder. Sie hatte ein gutes Herz - wenn auch mit viel Schminke überdeckt.

"Wenn ihr schliesslich im Kapitol ankommt, seid du und Blight zu dem Mentoren-Fest eingeladen, von welchem ich dir schon erzählt hatte. Während eure Tribute herausgeputzt und für die Wagenparade vorbereitet werden - wirst du die anderen, diesjährigen Mentoren kennenlernen!" Nun klang Tulip wieder aufgeregt und nickte mir gespannt zu.

"Du kennst schon ein paar von ihnen, oder?"
Leise seufzte ich auf, denn eigentlich hatte ich gedacht, dass ich nichts hätte sagen müssen. Ich Tulip's Vortrag zuhören, sie verabschieden konnte und dann mit Elio mich ins Bett kuscheln und Flüsse weinen konnte.

"Ja, Blight hat mir Jaspir vorgestellt..."
"Oh, Jaspir Trevors aus Distrikt 5! Er ist... speziell und doch sehr liebenswürdig!",redete mir Tulip nickend ins Wort und lächelte. Ich nickte langsam.
"Ausserdem hat mich Enobaria angesprochen...",murmelte ich dann etwas zögerlich - und Tulip hob die Augenbrauen an.
"Oh.",machte sie leise und ich merkte, wie sie etwas mit den Worten rang. Sie sollte nicht schlecht über irgendwen reden.

"Sie ist sehr impulsiv."
"Hmhm.",machte ich als Antwort bloss und Tulip wechselte schnell das Thema - weg von der Siegerin aus Distrikt 2.
"Blight kennt schon einige der anderen Sieger - also wirst du dich einfach an ihn halten können. Dieses Treffen wird sicher toll!"

Ich schwieg als Antwort und hob eine Augenbraue an, während ich Tulip betrachtete. Sie grinste gezwängt und nickte etwas.
"Jedenfalls werdet ihr noch einmal zu euren Tributen gehen, bevor die Wagenparade anfängt - ich bin ja so gespannt, was sich Helio dieses Jahr wieder einfallen lässt!",schwärmte sie und tatsächlich musste ich etwas lächeln beim Gedanken an meinen Stylisten.

"Nach der Wagenparade werdet ihr in das Appartment geführt, in welchem ihr die Trainingswoche mit den Tributen verbringen werdet. Gemütliches Abendessen und dann sind diese kurzen Tage bis wir im Kapitol sind auch schon vorbei!"

Ich nickte etwas und räusperte mich.
"Na dann - das klingt ja fantastisch."

Ayleen Fox | Leben als MentorinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt