10 ♛ Alle Jahre wieder

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Wenigstens waren die Stühle halbwegs bequem, auf welchen wir auf der Bühne sassen.
Johanna neben mir hatte das eine Bein über das andere geschlagen und Blight auf meiner anderen Seite hatte die Arme vor der Brust verschränkt.
Es kam mir vor, als würde ich die Kamera regelrecht spüren - deswegen wusste ich nicht, wie ich hier sitzen soll. Was für ein Bild ich abgab.

Der Film, welcher jedes Jahr auf der Leinwand abgespielt wurde, bekam ich nur halb mit.
Wie Tulip alle vorher begrüsste noch weniger. Ich probierte einfach irgendwie nicht daran zu denken, dass bei den Mädchen gerade Cassidy stand. Bei den Mädchen, welche gezogen werden könnten.

Mein Blick glitt zum Lostopf links - und wusste, dass der Name meiner Cousine dort drinn war. Mehrmals.
Cassidy Hutcherson.

Ich konnte sie nicht entdecken von da aus, wo ich sass - vielleicht verdeckte mir auch Tulip die ganze Zeit die Sicht, welche heute wieder so kapitolsartig angezogen war, wie es nur ging.
Angefangen bei goldenen Stöckelschuhen, trug sie braune Netzstrümpfe welche eine Art Baumrindenmuster besassen - passend zu ihrem fast giftgrünen Kleid, welches ihr bis über die Knie kam. Auf ihrer hellblonden Perrücke trug sie einige, auf jeden Fall aus Plastik hergestellte, Äste und Zweige.

Ich versuchte mich abzulenken, indem ich daran dachte, wie ich mich vorhin von meiner Familie verabschiedet hatte.
Den Kuss, welcher mir Elio geschenkt hatte - die lange Umarmung meines grossen Bruders. Das "Du schaffst das." von Glenn. Die ermutigenden Blicke von Onkel Wyll und Tante Augustine.

Meine Hand legte sich fast automatisch auf das Armband an meinem linken Handgelenk.
Victoria hatte es mir mit einem sanften Lächeln vorhin gegeben - ein Geschenk von ihnen allen, hatte sie mir gesagt. Damit ich immer wusste, dass sie bei mir waren.

Das Armband war aus dunkelbraunem Leder - daran waren insgesamt vier silbrige, kleine Anhänger angemacht.
Eine schön verzierte Axt, ein aufgeschlagenes Buch, eine Blume und schliesslich ebenso ein Herzanhänger.
Victoria liebte es, solche Sachen zu basteln - und hatte mir erzählt, dass alle dazu beigetragen hatten, mir diese kleine Erinnerung schenken zu können.

Dass ich daraufhin in Tränen ausgebrochen war, musste ich glaube ich nicht erwähnen.

Also strich ich mit meinem Daumen gedankenverloren über die vier Anhänger. Versuchte mir die verschiedenen Formen einzuprägen.

"Na dann also - Ladys first!"
Abrupt schaute ich auf. Ich fühlte mich, als würde mir die Luft wegbleiben, als ich Tulip beobachtete. Wie sie vor mir durchging zum linken Lostopf. Theatralisch einen Zettel hinauszog und schier im Schneckentempo zurück zu ihrem Rednerpult ging.

Ich spürte den Blick von Johanna auf mir. Dann ein ganz leises Seufzen von welchem ich mir sicher war, dass es bloss ich hören konnte - und schon spürte ich ihre Hand auf meiner. Sie umschloss sie bestärkend.

"Die diesjährige, weibliche Tributin ist..."
Es war totenstill. Man hörte gar nichts mehr, ausser der Stimme von Tulip.

"Tilia Gregors!"
Auch wenn es sich falsch anfühlte, atmete ich etwas auf.
Johanna neben mir atmete tief durch und liess meine Hand sanft wieder los.
Ich war wirklich froh über diese Geste gewesen - und schaute Johanna kurz dankend an. Sie zog einen Mundwinkel nach oben, ehe wir zusahen, wie ein Mädchen aus der Menge trat.

Sie besass kinnlanges, blondes Haar - war etwas kleiner als ich, und doch konnte ich ihr Alter noch nicht wirklich einschätzen.
Als sie auf die Bühne hinauftrat sah ich, dass sie Sommersprossen auf ihrem Gesicht und dunkelbraune Augen besass.
Ihr Blick schien stur zu sein - aber komischerweise nicht sonderlich voller Angst.
Warscheinlich stand sie wie ich damals noch unter Schock. Gut für sie - so sah sie nicht schwach aus.

"Wie alt bist du, meine Liebe?"
"Wie alt schätzt du mich denn, meine Liebe?"
Tilia's abrupte und ziemlich aufmüpfige Antwort liess Tulip etwas aus der Bahn fallen - stiess ein etwas nervöses Lachen aus und nickte etwas.
Schliesslich sagte ihr Tilia dann doch, dass sie 16 Jahre alt wäre - und Tulip fand wieder in ihre Rolle hinein.

Ich runzelte die Stirn und betrachtete Tilia, welche sich schliesslich neben Tulip stellen musste, während diese gleich den männlichen Tribut verkünden würde.
Fast wie angekettet schien ich von ihrer so speziellen Art zu sein - und Angst bahnte sich in mir an.

"Der männliche Tribut ist..."
Schnell wendete ich meine Aufmerksamkeit wieder Tulip zu und atmete tief durch.

"Neil Miller!"
Mein Herz setzte einen Moment aus, als aus der ganz zuvordersten Reihe ein Junge vortrat.
Jeder wusste, dass dies bedeutete, dass er gerade mal 12 Jahre alt war. Einer der Jüngsten.
Mein Herz begann viel zu schnell zu klopfen und ich musste mich beherrschen, damit mein Atem irgendwie regelmässig blieb.

Neil trat mit wackeligen Knien auf die Bühne. Er besass rabenschwarzes Haar, sanftdunkle Haut und braune Augen. Diese braunen Augen waren aber voller Panik - sein Blick traf für eine Sekunde den meinen, bevor er von Tulip begrüsst wurde.

Alles in mir drinn schien zu rebellieren.
Neil sah so klein aus, als er der immer noch emotionslos dreinschauenden Tilia die Hand schütteln musste. Man hörte entfernt ein lautes Aufschluchzen und ich war mir ziemlich sicher, dass dieses von der Familie von Neil kam.

"Das sind unsere Tribute für die diesjährigen, 73.Hungerspiele!",verkündete Tulip in ihr Mikrofon und versuchte wirklich fröhlich zu klingen - doch auch sie hatte der Fakt stark getroffen, dass sie einen zwölfjährigen Jungen gerade in den Tod schicken würde.

"Fröhliche Hungerspiele! Und möge das Glück stets mit euch sein!"
Ich war mir noch nie so sicher gewesen wie in diesem Moment, dass das Glück niemals mit uns sein würde.

×

Ich fühlte mich in meine eigenen Hungerspiele zurückversetzt, als ich zuschaute, wie Tilia und Neil in das Zugabteil traten.
Neil schaute mit grossen Augen umher - und doch sah ich, dass diese rot vom Weinen waren. Wollte mir gar nicht vorstellen, wie emotional und schlimm seine Verabschiedung hatte sein müssen.
Sogar Tilia schien vom Luxus des Kapitols verblüfft zu sein - schaute sich mit hochgezogenen Augenbrauen um.

Doch dann blieb er Blick an mir hängen - trotzdessen, dass Tulip den beiden gerade Blight vorstellte.
"Ihr werdet eine Nacht hier im Zug verbringen - morgen gegen späten Nachmittag werden wir im Kapitol ankommen!",erklärte Tulip mit einem Lächeln auf den Lippen, welches mir wie immer so unfassbar fehl am Platz vorkam.

Neil schaute mich etwas verängstigt an - ich schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln. Auch wenn mir dies ebenso fehl am Platz vorkam.
Verdammt.

"Ihr solltet euch erstmal etwas ausruhen, duschen und was anderes anziehen gehen. Heute Abend schauen wir uns miteinander die anderen Ernten an - und werden mal schauen, mit was für-"
"Ja, was auch immer.",redete ihm Tilia kopfschüttelnd ins Wort und ging in schnellen Schritten an uns beiden vorbei - raus aus dem Abteil Richtung deren Schlafwaggons.

Sogar Blight schien im ersten Moment perplex zu sein - räusperte sich aber dann und widmete sich Neil, welcher nur noch ängstlicher schien.
"Soll ich dir dein Zugabteil zeigen, Neil?",schlug er mit sanfter Stimme vor - woraufhin Neil schnell nickte und abrupt wieder glasige Augen bekam.

Ich musste mich abwenden, als Blight mit dem kleinen Neil in die gleiche Richtung wie Tilia ging. Seine Hand sanft an den dünnen Arm des Jungen gelegt hatte.
Ich spürte Tulip's Hand auf meiner Schulter - aber ich riss mich weg und schüttelte den Kopf.

Ayleen Fox | Leben als MentorinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt