16 ♛ Ignorierte Tatsachen

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"Bin ich froh, haben wir Helio als Stylisten.",sagte Blight neben mir grinsend, als wir zuschauten, wie die Wagen vom grossen Paradeplatz wieder einfuhren.
Alles verlief bestens - niemand fiel vom Wagen und auch sonst war alles gut gelaufen. Oder gefahren, besser gesagt.

Oh ja, ich fühlte mich durchaus entspannter - bessergesagt; angetrunken, und das wohl am höchsten Level, welches man noch als angetrunken bezeichnen konnte.
Aber die Party war besser gewesen, als ich es mir je hätte vorstellen können. Vielleicht auch einfach nur, weil Blight und Jaspir dabei gewesen waren - wenn ich mir vorstellte, alleine dorthin gehen zu müssen, wurde mir übel.

Tilia und Neil waren in eine Art Blätteroutfit eingewickelt - zwar sah es durchaus nicht so elegant aus, wie damals bei mir und - ich unterbrach diesen Gedanken sofort - aber auch nicht so dämlich wie die Outfits die letzten paar Jahrzehnte, in welchen die Tribute regelrecht als Baum verkleidet wurden.

Ich erkannte, dass Helio dieses Jahr viel Efeuranken gebraucht hatte, welche sich um das Kleid von Tilia und den Anzug von Neil rankten.
Tilia's blonde Haare hatten sie etwas lockiger gemacht - sie trug grünes und goldenes Make-Up und ich fand, dass ihr dies stand. Doch natürlich sah meine Tributin alles andere als glücklich aus. Fast wie eine Steinstatue hatte sie starr und wütend umhergeschaut, als die Wagen durch die Publikummenge gefahren war.

Neil hingegen hatte irgendwann zaghaft angefangen zu winken - und das hatte dem Kapitol natürlich total gefallen. Der zwölfjährige, zierliche Junge - welchen alle niedlich fanden, aber natürlich niemals als Sponsorenkanditat sehen würden.
Auch diesen Gedanken versuchte ich mir wegzuschlagen.

"Oh, das war grossartig!",schwärmte Tulip lächelnd, als Tilia und Neil von der dieses Jahr dunkelbraunen Kutsche hinabstiegen.
Tilia machte ein abfälliges Pff-Geräusch und Neil schaute bloss noch etwas überfordert umher. Überall waren die Mentoren und Stylisten nun zu den Wagen ihrer Tribute getreten - und überall redeten Leute und lachten über die ersten Auftritte.

"Wir werden gleich in das Appartment gehen! Oh, ihr werdet es einfach lieben - sie haben es übrigens etwas renoviert seit dem letzten Jahr!",erzählte Tulip aufgeregt und schaute währenddessen zu mir rüber. Ich setzte kurz ein ebenso aufgeregtes Lächeln auf - aber eigentlich war es mir egal, wie das Appartment aussehen würde. Luxus war Luxus. Und mehr Luxus - war immer noch Luxus.

Tulip ging mit Neil und Tilia vor - Blight und ich hatten sowieso gerade keine Nerven für die aufgeregten, überenthusiastischen Erzählungen während der Roomtour von Tulip.
Auch wenn wir beide wussten, dass Tulip nunmal so in ihrem Job sein musste - wir wussten beide, dass sie ansonsten auf einmal die Aufmerksamkeit des Kapitols und Spielemachern bekommen würde. Und keineswegs würde sich diese Aufmerksamkeit positiv auf sie und ihren Job auswirken.

Einen Moment hatte ich schliesslich gegen eine Übelkeitswelle ankämpfen müssen - doch nach einigen Minuten ins Leere starren und zweimal auf Hundert zählen, hatte ich es wieder überstanden.

Die meisten Tribute waren verschwunden - nur noch einige Stylisten und Mentoren standen in Grüppchen bei den Kutschen und Pferden umher. Von draussen hörte man die Zuschauer, wie sie redeten und lachten - während sie von der Zuschauertribüne hinabgingen. Als hätten sie gerade einen guten Kinofilm gesehen.

"Interessante Tribute hat Sieben - euer Distrikt hat wohl nen Lauf, hm?"
Ich zuckte im ersten Moment zusammen, als Haymitch sich neben mich stellte. Blight hatte gesagt, er wäre gleich zurück - er wollte noch Killian begrüssen gehen, welcher scheinbar im Publikum gesessen war.

Haymitch trug ein dunkelgraues Hemd und schwarze Cordhosen. Seine Haare sahen zwar gewaschen aus - doch letztendlich konnte er tragen was er wollte; er würde immer müde und zerstört aussehen. Gebrochen, konnte man fast sagen.

"Weshalb meinst du?",entgegnete ich und schaute zu dem blonden Mann neben mir. Ich war angetrunken - er betrunken. Und doch konnte ich mich gar nicht erinnern, wie Haymitch Abernathy nüchtern war. Vielleicht war er ja tatsächlich nur angetrunken, ich wusste es nicht.

"Das Mädchen jedenfalls - ziemlich sturköpfig sieht sie aus. Hoffentlich auch stark. Aber mit dem Jungen hast dus ähnlich erwischt, wie ich." Seine Stimme klang einen Moment wirklich etwas traurig - wehleidig. Ich erinnerte mich daran, dass Distrikt 12 dieses Jahr zwei zwölfjährige Tribute hatte. Mager und schwach hatten sie ausgesehen - warscheinlich aus dem Saum des Distriktes.

"Ja.",brachte ich nur heraus - da ich immer noch versuchte, nicht an den Zeitpunkt zu denken, wo der kleine Neil sterben würde. Er wird sterben.
"Blight und ich werden unser bestes geben."
Trotz der Beruhigung des Alkohols, bekam ich glasige Augen. Ein solcher kleiner Kommentar von Haymitch - wie konnte er so viel in mir auslösen?

Überrascht spürte ich nach meinen Worten eine zögerliche Hand auf meiner Schulter. Für einen Moment schien mich Haymitch ehrlich und mitfühlend anzusehen.
Dann schaute er zum Fahrstuhl, wo vor einigen Minuten die letzten Tribute hineingegangen waren. Ich folgte seinem Blick.

"Wenn ich dir einen Rat unter Mentoren geben darf, Ayleen..." Er schaute mich wieder an. Ernst. Nachdenklich.
"Setz da nicht zu viel rein. Sonst gehst du nur noch mehr kaputt."
Ich spürte, wie er kurz sanft auf meine Schulter klopfte, und sich dann von mir abwand - Richtung Fahrstuhl.

Mit gerunzelter Stirn schaute ich ihm nach - fast als würde ich die Worte zuerst gar nicht verstehen. Nein, ich wollte sie nicht verstehen. Der Gedanke daran, nicht mein bestes zu geben, zerriss mich.
Doch wie konnte ich mein bestes geben - wenn ich wusste, dass es sowieso niemals genug sein würde? Einer unser Tribute würde sterben - und sehr warscheinlich waren sogar beide diesem Schicksal versprochen.

Wie zur Hölle konnte ich damit umgehen?
Ich konnte mich doch nicht einfach zurücklehnen und nicht mein bestes geben, einfach zuschauen - oder doch? Konnte ich mich wirklich einfach die ganze Zeit mit Alkohol beruhigen und ablenken, im Wissen, dass ich sowieso nicht genug tun können würde?

Nein.
Aber mit diesem Wort wusste ich, dass ich mir damit anfing, mein eigenes Grab zu schaufeln.

×

Tilia schien durch ihre sturköpfig aussehende Art beliebt bei den Sponsoren und dem Kapitol zu sein - aber keineswegs so sehr, wie die Karrieros oder einzelne andere stark scheinende Tribute. Sie war etwas über der Hälfte - beliebt, aber nicht so sehr, um als jemanden zu gelten, worüber das Kapitol aufgeregt berichtete.
Und bei Neil mussten wir gar nicht erst anfangen.

Der nächste Tag war nicht so bedrückt wie ich erwartet hatte - und auf einmal wurde mir klar, dass ich mich nicht mehr haargenau erinnern konnte, wie die Stimmung damals bei meinen Hungerspielen gewesen war.
Wie hatte ich mich damals an meinem ersten Trainingstag gefühlt?

Jedenfalls hatte ich gedacht, es wäre mir schlechter gegangen, als Tilia und Neil heute. Beide hörten Tulip brav zu, als sie erzählte, dass die nächsten drei Tage das Training angesagt war - am vierten Tag dann das Einzeltraining, vor welchem jeweils Neil mit Blight und Tilia mit mir schaute, was die beiden den Spielemachern vorstellen könnten.

Vielleicht hatte man es mir auch einfach gar nicht so sehr angesehen, wie ich gedacht hatte - vielleicht stand vor allem Neil immer noch unter Schock. Die Tage seit der Ernte schienen auf eine Art schnell vorbeizugehen - aber wohl auch nur, weil währenddessen so viel geschah.

Aber was mich am meisten verwunderte, war Tilia's Schweigen. Sie ass stumm das Frühstück - verdrehte nicht die Augen bei Tulip's Erzählungen und unterbrach sie mit keinem einzigen sarkastischen Spruch.
War irgendetwas geschehen? Ich wusste es nicht - und mir wurde klar, wie wenig man letztendlich mit den Tributen Zeit verbringen konnte.
Zu wenig Zeit. Ich brauchte mehr Zeit, um sie auf die Spiele vorzubereiten.

Doch ein zerfressender Gedanke war seit gestern in meinem Kopf versteckt - seit dem Gespräch mit Haymitch. Verzweifelt versuchte ich ihn wegzuschieben, wegzusperren.
Aber als ich schliesslich an Blight's Seite zusah, wie Tilia und Neil in ihren Trainingsanzügen das Appartment verliessen, um an den ersten Trainingstag zu gehen - zerstach mir dieser Gedanke das Herz.

Ich hatte überhaupt gar keine Ahnung, wie ich Tilia perfekt auf die Spiele vorbereiten konnte.

Ayleen Fox | Leben als MentorinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt