6. Kapitel - Leo

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Heute stand doch tatsächlich der sechszigste Geburtstag meines Vaters an. Wie all die anderen Geburtstage und Familienfeiern, verbrachten wir diesen in einem sehr edlen Restaurant. Neben meinen Eltern war auch meine große Schwester, Susanna mit ihrem Mann gekommen. Sie war fast acht Jahre älter als ich und Mutter von zwei Kindern.

Beides verzogene Rotzbengel mit einem starken eigenen Willen.

„Alisa, Georgina, Lina und ich waren gestern in einem Café, das uns wärmstens von ein paar anderen Müttern aus der Kindergartengruppe empfohlen wurde. Familienfreundlich haben sie gesagt .Die besten Waffeln und Muffins in der ganzen Stadt...", startete Susanna sofort ein Gespräch. Sie stand so ziemlich immer im Mittelpunkt bei meiner Mutter. Sofort hing diese nur noch an den Lippen ihrer Tochter. „Ich bin aber überhaupt nicht begeistert gewesen. Anfangs war ja noch alles okay. Bis dieser schräge Besitzer, der meiner Meinung nach schwul sein muss, mit einem anderen Gast und seinen Kollegen ziemlich lautstark über etwas gesprochen hat, das definitiv nicht für Kinderohren geeignet ist. Kassandra hat den ganzen Heimweg nur noch gefragt, was „harter Sex", ist."

Bei diesen Worten wurde meine Schwester leiser, so dass ihre fünfjährige und Theodore, der dreijährige ja nichts davon mitbekamen.

Ich rollte nur mit den Augen, wurde aber gleichzeitig hellhörig. Das war so typisch Susanna. Verklemmt bis in die Haarspitzen. Alles was nicht in ihr Weltbild passte, war automatisch falsch. Ein Wunder, dass sie es geschafft hatte, ihre beiden Kinder zu zeugen.

„Dabei bist du es gewesen, die in der zehnten Klasse mit einer Frau angebandelt hat", mischte ich mich ein.

„Das wusste ich gar nicht", meldete sich mein Schwager zu Wort.

Aber Susanna ignorierte ihn gekonnt und mir warf sie sofort einen bösen Blick zu.

„Du brauchst dich gar nicht einzumischen, Leonhard", zickte sie mich an. „ Du hattest ja noch nie eine Beziehung, die länger als drei Monate hielt. Von Liebe so gar keine Ahnung. Und Kinder hast du auch noch keine. Wenn es mal soweit sein wird, wirst du dich vielleicht an dieses Gespräch hier erinnern und mir Recht geben".

„Sicher nicht", murmelte ich.

Der Ober kam zu uns an den Tisch und fragte, ob alles in Ordnung sei.

„Alles bestens. Vielen Dank", sagte Papa. Er schwieg fast immer. Was wohl auch daran lag, dass seine Meinung nicht oft erfragt wurde.

Ich lächelte Papa zu und er erwiderte dieses sofort. Wir verstanden uns auch ohne Worte.

Meine Schwester dagegen diskutierte schon wieder eifrig mit Mama. Ihr Mann beschäftigte die Kinder. Ich musste an Rina denken. Daran, wie sie ungläubig diese beiden Worte „Sex" und „Hard", gesagt hatte. Ihre blonden Locken sprangen dabei hin und her und die blauen Augen funkelten mich empört an. Natürlich hatte ich sie nicht missverstanden. Aber sie ein bisschen hochzunehmen, um ihr diese zauberhafte Röte ins Gesicht zu zaubern, war es allemal wert gewesen. Diese Frau löste irgendetwas in mir aus und das war nicht nur körperliche Anziehungskraft.

Warum aber verfolgten mich diese Gedanken bis hierher? War ich so berechenbar? Einfach doch nur von meinen Hormonen angetrieben?

„Das ist ja unerhört. Familienfreundlich bezeichnen sie so was? Unglaublich...Und das Steak hier ist wirklich nicht genießbar. Zäh wie eine Gummisohle", empörte Mama sich lautstark. Immer gab sie Susanna Recht. Eine eigene Meinung hatte sie nicht. Schon lange nicht mehr.

So viel zum Thema, die Kinder sollten ja nichts mitbekommen. Natürlich war Kassandra jetzt noch neugieriger und betrachtete ihre Oma ganz genau.

Langsam füllte sich das Restaurant. Wegen der Kinder waren wir so ziemlich die ersten Gäste für den Abend gewesen. Das junge Paar, das beinahe zeitgleich mit uns gekommen war, erhob sich gerade. Mit hochrotem Kopf eilte er zu dem Mädchen und ergriff zittrig ihre Hand. Ich starrte ihnen hinterher, bis sie durch die Eingangstür verschwanden. Bestimmt war ihr gemeinsamer Abend noch nicht vorbei.

Unsicher zog ich das Taschentuch meiner Oma aus der Hosentasche. Seit Rina es mir gestern zurückgegeben hatte, trug ich es mit mir herum. Der Riss darin war deutlich sichtbar. Darum musste ich mich unbedingt kümmern. Was Rina wohl damit angestellt hatte? Ich erwischte mich dabei, wie ich es an die Nase hob und daran...roch.

Was erhoffte ich mir damit? Rinas Geruch konnte nicht daran haften. Es war irrsinnig. Was machte ich hier eigentlich?

„Welches Café war das denn?", fragte ich Susanna. Ich musste mich dringend ablenken.

„Das Daily T&C. Es wundert mich ehrlich nicht, dass du da jetzt auch hin gehen möchtest", antwortete Susanna kopfschüttelnd. „Du bist ein Kindskopf und wirst das auch immer bleiben. Dein Job bei der Polizei kann daran auch nichts mehr ändern. Ein Wunder, dass du ausgewählt worden bist, um eine eigene Einheit zu leiten."

„Vielleicht bin ich das wirklich. Aber definitiv besser als ein langweiliger Spießer zu sein."

Darauf erwiderte meine Schwester nichts mehr. Beleidigt wandte sie sich von mir ab.

Mein Blick fiel wieder auf das Stofftaschentuch in meiner linken Hand.

Morgen war zufällig mein freier Tag.

Ich trank zwar lieber meinen SaftExtrem, aber gegen einen Kaffee zwischendurch sprach ja nichts.

Und vielleicht konnte ich mich in diesem Café etwas von Rina ablenken.

Es war schon beinahe gruselig, wie sie mir seit Tagen im Kopf herumspukte.

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