Na super. Hätte dieser... wer auch immer das war nicht ein paar Sekunden früher klingeln können? Dann hätte ich es mir nämlich noch nicht mit meinen frischgebackenen Brownies auf dem Sofa gemütlich gemacht.
Ich hätte mich mit meinen Gedanken auch noch nicht weit Abseits von Herzschmerz und stattdessen Hals über Kopf in meiner Lieblingsserie befunden.
Zugegeben meine Taktik war sicher nicht ganz ausgereift. Früher oder später würde mich die Realität sowieso einholen, aber wieso für den Moment nicht so tun, als sei alles okay?
So wie die Strauße, welche ihren Kopf einfach in den Sand stecken, um nicht entdeckt zu werden. Funktionierte anscheinend ganz gut. Wieso sonst sollten sie es tun?
Okay, eigentlich steckten sie ihn nicht ganz in den Sand, aber... war ja auch egal.
Viel entscheidender fand ich, dass es an Folter grenzte aufgefordert zu werden meine heile Welt jetzt wieder verlassen zu sollen.
Ich seufzte. Was soll's.
Unwillig hievte ich mich hoch und schlürfte als Enthusiasmus in Person zur Wohnungstür. Ob es die Nachbarin ist? Oder der Postbote? Aber warte 18 Uhr? Wäre reichlich spät.
Unsicher verweilte ich vor meiner potenziellen Falle ins Verderben. Was, wenn es Hard war? Er war mir vorhin ja gefolgt, also wusste er, wo ich wohne. Nervös begannen meine Finger an der Jogginghose zu kneten.
Ein erneutes Klingeln ließ mich zusammenfahren und wie aus einer Kurzschlussreaktion die Tür sperrangelweit aufreißen.
„Dave?" Der Blondschopf schien genauso erschrocken zu sein wie ich, als hätte er sich davor gefürchtet, dass sich die Tür tatsächlich öffnete. Er wirkte generell irgendwie angespannt. Seine Hände tief in den Hosentaschen vergraben.
„Äh, Hi. Sorry, ich weiß, es ist spät." Er lächelte verspannt und ließ seinen Blick hinter sich schweifen, als überlegte er gleich wieder zu flüchten.
Ich betrachtete ihn argwöhnisch. Es kam nicht sehr oft vor, dass er mich hier besuchte. Erst recht nicht zu dieser Tageszeit.
„Was ist los?"
Er kratzte sich nachdenklich am Kopf und überlegte, wie er anfangen sollte. „Darf ich dir zwei Fragen stellen?"
Als Antwort hob ich irritiert meine Augenbrauen.
„Okay, die erste wäre. Wie siehst du das grundsätzlich bei Freundschaften. Dürfen Freunde Kleinigkeiten für sich behalten, wenn sie in der Annahme sind, dass es für den jeweils anderen zum Besten ist? Und würdest du es so jemandem verzeihen, wenn es sich am Ende als totaler Reinfall herausstellt?"
Jetzt war ich nur noch verwirrter. „Was meinst du?"
„Egal. Sag einfach, ob du es an dieser Stelle verzeihen könntest oder nicht." Ich überlegte. „Du meinst, wenn es zum Besten des anderen gedacht war?" Er nickte.
„Käme womöglich darauf an, aber ja wahrscheinlich schon. Von wem reden wir hier eigentlich? Brauchst du Rat?"
„Nein, schon gut, das war's schon. Jetzt zu der nächsten Frage." Ich blinzelte perplex.
Jetzt verstand ich nur noch Bahnhof.
„Also ich habe ein Problem. Besser gesagt diese Karten hier." Er fischte zwei Tickets aus seiner Hosentasche. „Ich hätte eigentlich ein Date und... na ja. Dafür braucht es ja immer eine zweite Person. Leider ist mir diese abgesprungen und jetzt habe ich die Karten schon gekauft..."
„Warte mal, du hättest heute auch ein Date gehabt?"
„Äh.." Schon wieder kratzt er sich im Nacken, als wäre ihm irgendetwas unangenehm.
„Erzähle ich dir alles später, jetzt haben wir keine Zeit. Also falls du mitkommen willst. Ich wäre dir echt dankbar."
Ich verzog mein Gesicht und dachte sehnsüchtig an meine gerade erkaltenden Brownies und Kuschelsocken.
„Wieso hast du Peggy oder Till nicht gefragt?"
„Dein Ernst? Erstens musste ich Peggys herrische Anweisungen heute schon den ganzen Tag ertragen, obwohl ICH der offizielle Betreiber des Cafés bin und zweitens haben sowohl sie als auch Till keine Zeit."
Ich verdrehte die Augen. „Diesen herrischen Ton hat sie sich doch nur angewöhnt, weil ihr beide sie sonst alles alleine machen lasst."
Dave kratzte sich unruhig am Arm und wich meinem Blick. „Also was ist jetzt, kommst du mit?"
„Für was sind eigentlich diese Tickets?"
Daves Brauen huschten erschrocken in die Höhe und er führte die Karten schnell vor sein Gesicht, um nachzusehen.
„Hast du sie etwa nicht selber gekauft?"
„Was? Doch-doch. Klar! Äh... Sie sind für ein Konzert."
„Ach ja und welches?"
Ich sah, wie sein Blick wieder hektisch umherschweifte, ohne wirklich etwas zu inspizieren.
„Das ist eine Überraschung."
Ich betrachtete ihn misstrauisch. Das passte so gar nicht zu ihm. Normalerweise hasste er Unvorhergesehenes.
„Willst du dir nicht etwas anderes anziehen? Mit diesen Klamotten kann man doch nicht auf einem Konzert auftauchen."
Ich sah an mir hinab. Eigentlich ziemlich bequem. Genau das, wonach ich mich
gerade sehnte. „Wenn du mir sagst, was es für eines ist, kann ich meine Kleidung ja darauf abstimmen." Dave weitete dezent überfordert seine Augen. „Äh... am besten du ziehst einfach an, was du heute bei deinem Date getragen hättest."
Mit einem komischen Gefühl im Bauch, saßen wir fünfzehn Minuten später tatsächlich schon in der Straßenbahn auf dem Weg zu dem, anscheinend ziemlich teuren Event. Ich hatte ja eigentlich nicht gedacht, dass ich diesen Tag auch nur noch einen Schritt vor die Tür setzen würde.
Und erst recht nicht, dass ich auf ein Konzert ging. Dazu auch noch mit Dave. Irgendwie war es schon seltsam. Ich meine, wir kannten uns jetzt schon eine Weile, aber hatten noch nie wirklich solcherlei Dinge zusammen unternommen.
Leider hatte ich keine Ahnung, wer heute alles für Konzerte gab. Und dummerweise hinderte mich mein Begleiter auch immer wieder daran, auf meinem Handy nachzusehen.
„Hier muss es irgendwo sein."
„Klar ist es hier. Wo auch sonst? Wenn es große Konzerte gibt, dann ja wohl..."
Die restlichen Worte blieben mir im Hals stecken, als wir gerade ausstiegen und meine Augen über eine mir viel zu vertraute Gestalt schweiften, welche lässig wartend an einem Baum gelehnt stand.
Das darf doch nicht...
Doch... tatsächlich. Er steckte in anderer Kleidung, als noch vorhin, allerdings wirkte es, als hätte er sein Hemd in Eile übergezogen, da einige der Knöpfe an der falschen Stelle verbunden wurden.
Ich erkannte zu meinem Erstaunen das Taschentuch an seinem Handgelenk. Wieso hatte er es sich umgebunden?
Sein dunkelblondes Haar stand ihm verwuschelt zu Berge, als sei er, oder jemand mehrmals mit seinen Händen dadurch gefahren.
Ich spürte, wie sich ein Kloß in meinem Hals ausbreitete, besonders als ich dann auch noch bei seinen funkelnden Augen angelangte.
„Hard."
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Auf den zweiten Blick - Ein Wattpad Community Projekt
AléatoireDieses Buch ist im Rahmen eines Gemeinschaftsprojektes entstanden, bei welchem viele Autorinnen und Autoren gemeinsam eine Geschichte geschrieben haben. Florina, eine eher schüchterne junge Frau, trifft unverhofft auf Leonhard, der das genaue Gegen...