23. Kapitel - Rina

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Als ich das Buch in dieser Schachtel erblickte, schoss mir zuerst der Gedanke durch den Kopf: Ein Fotoalbum!

Das zeigten Omas und Muttis ja allzu gerne: Der süße Kleine nackig auf einer Kuscheldecke, mit Badehose am Strand, mit eisverschmiertem Gesicht. Dann erwarteten sie verzückte Rufe, während der Fotografierte am liebsten im Boden versinken würde.

Aber ich hatte mich gründlich geirrt. Keine Lichtbilder füllten die Seiten, sondern Worte, viele Worte.

Die ersten Seiten noch in ziemlich unsicherer Schrift, die sich zunehmend formte, immer gereifter und erwachsener wurde.

Der Form nach mit den eher kurzen Zeilen handelte es sich um Gedichte. Da von mir wohl erwartet wurde, dass ich zu lesen begann, obwohl ich eigentlich noch genug damit zu tun gehabt hätte, all die Eindrücke von meinem Umfeld in mir aufzunehmen, wollte ich mich auf die Texte einlassen.

Hard neben mir begann etwas schneller zu atmen, ein Blick auf ihn zeigte mir, dass sein Gesicht eine leichte Röte überzogen hatte.
„Ist es dir recht, wenn ich das lese?", fragte ich vorsichtshalber. Ich wollte schon seine Zustimmung haben, sicher waren auf diesen Seiten sehr private Gedanken festgehalten worden. Großmütter konnte schließlich manchmal auch ziemlich unsensibel sein.

Er hielt meinem Blick stand und nickte. „Ja", stieß er hervor. „Ich glaube, da lernst du mich am besten kennen."

Mein Herz flatterte ein wenig – vor Freude, vor Aufregung, vor ... vor ... vor etwas wie ...Liebe?

Das Wort war noch nicht gefallen zwischen uns, und doch schien uns beiden immer klarer zu werden, dass etwas zwischen uns schwang.

Meine Augen nahmen die Worte, die da geschrieben standen – manchmal mit Bleistift, dann wieder mit Kuli, mit dicken Filzstiften oder sogar mit Tinte in schwungvollen Stil – auf, mein Gehirn verarbeitete das Geschriebene willig, meine Seele saugte es in sich auf.

Der erste Eintrag handelte von der Unsicherheit eines Sechzehnjährigen, der noch seinen Weg ins Leben suchte. Die Reime waren etwas holprig, etwas gequält, doch je weiter ich mit dem Lesen kam, desto leichter und geübter wurde die Sprache.

Ich konnte mich nicht allem widmen, es waren einfach zu viele Seiten. Ein grober Überblick sollte reichen, um tief in Hards Gedankenwelt blicken zu können.

„Sommertag", „Wintermorgen", „Am Waldrand" boten ziemlich gute Momentaufnahmen, tiefe Gedanken, die wohl kein Fremder dem lustigen, aufgedrehten Kerl zugetraut hätte.

Doch auch ironische Gedichte zum Weltgeschehen, spaßige Episoden aus seiner Familie – vor allem über seine Schwester - waren zu finden.

Ganz hinten entdeckte ich Verse zu einem Taschentuch, das seine Großmutter ihm geschenkt hatte, als sie wegen einer Herzsache ins Krankenhaus gemusst hatte.

Diese Geschichte war absolut perfekt formuliert, erzählte von Seide und Spitze, die sein Opa seiner Liebsten überreicht hatte, bei ihrem zweiten Rendezvous. Von einem Tuch, das sie ihr ganzes Leben begleitet hatte, bei ihrer Hochzeit in ihrem Brauttäschchen gesteckt hatte, bei der Geburt ihrer Kinder dazu gedient hatte, ihr den Schweiß aus dem Gesicht zu wischen.

Das Freudentränen getrocknet hatte bei der Geburt ihrer Enkelin und ihres Enkels.

Das schließlich Hard selbst irgendwie zu mir geführt hatte.

Mir liefen bei diesen Worten die Augen über, die Zeilen verschwammen. Ich fühlte, wie der kühle Stoff über mein erhitztes Gesicht glitt, als Hards kräftige Hände meine Tränen zärtlich trockneten – mit ebendiesem Tüchlein.

Sein Lächeln ließ die Sonne noch heller erstrahlen, und ich wusste und fühlte, es galt mir allein.

„Du hast nicht ein einziges Mal gelacht", flüsterte er ganz dicht an meinem Ohr, was wieder einmal die heißesten Schockwellen durch meinen Körper jagte.

Auf den zweiten Blick - Ein Wattpad Community ProjektWo Geschichten leben. Entdecke jetzt