10 | Die Wahrheit

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Ich weiß nicht wieviel Zeit vergangen ist, in der ich an der Wand gelehnt und meinen Tränen freien Lauf gelassen habe.
Irgendwann ist Tarık hereingekommen und hat mich gefragt was los ist, aber ich konnte es ihm nicht sagen. Mit Sicherheit wird ihn sein bester Freund schon selber darüber aufklären, was ich für ein verlogenes Miststück bin, dass ich die Dreistigkeit besitze, ihm so offensichtlich ins Gesicht zu lügen. Also habe ich keinen Laut über meine Lippen gebracht. Zu meiner Erleichterung hat er es so hingenommen und mich durch den Hinterausgang zum Auto gebracht. Ich bin froh, dass er nicht weiter nachgefragt hat, auch wenn ich weiß wie sehr ihn diese Neugierde wurmt.

Mittlerweile liege ich mit starren Blick an die Decke auf meinem Bett. Wann habe ich mich das letzte Mal so leer gefühlt? Ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Erschöpft schließe ich die Augen und drifte in den Schlaf ab.

***

Die Sirene eines Krankenwagens flutet die Straße unter mir und reißt mich aus dem Schlaf. Am liebsten würde ich mich wieder umdrehen und weiterschlafen, aber der zusätzliche Krach der Nachbarn macht mir einen Strich durch die Rechnung.
Der Blick auf meinen Wecker verrät mir, dass es erst 6:34 ist. Genervt schwinge ich meine Beine aus dem Bett und plumpse ein paar Sekunden später, wie ein nasser Sack auf die Klobrille. Durch das ganze Heulen gestern Abend fühlt sich mein Inneres immer noch so elendig und leer an. Mit glasigen Augen vor Müdigkeit steige ich in die Dusche, in der Hoffnung das dreckige Gefühl von mir zu waschen, aber es funktioniert nicht und zeigt mir nur einmal mehr was ich verbockt habe.

Den ganzen Vormittag habe ich Hausfrau gespielt und alles geputzt und gewaschen, was ich in die Finger bekommen konnte, nur um mich abzulenken. Auf meine ganzen Anrufe und Nachrichten hat Sedat bisher immer noch nicht geantwortet. Ich weiß, dass ich ihn verletzt habe, aber er soll mir doch nur einmal noch die Chance geben mich zu erklären.
Plötzlich ertönt das Läuten meiner Klingel und reißt mich aus den Gedanken.

Es ist Mittag die meisten sind Arbeiten und bestellt habe ich nichts. Mit nervösen Schritten laufe ich auf die Tür zu und bete innerlich, dass es kein Italiener ist.

Mit dem Blick durch den Spion fällt mir beinahe ein Stein von Herzen. Euphorisch reiße ich meine Wohnungstür auf und schlinge meine Arme um Sedats Hals.
„Es tut mir leid", flüstere ich gequält. Er bleibt steif vor mir stehen und hebt erst nach einigen Sekunden zögerlich den Arm, um mir kurz auf den Rücken zu klopfen und mich dann von sich zu schieben. Unbehaglich entferne ich mich wieder von ihm. Die angespannte Stimmung ist noch immer da, aber bei Weitem nicht mehr so wie gestern. Etwas zögerlich trete ich zur Seite, dass er hereinkommen kann. Keiner sagt etwas. Mit der Brötchentüte in der Hand läuft er voraus ins Wohnzimmer.

„Du hast geputzt", mit hochgezogenen Augenbrauen dreht er sich zu mir und mustert mich. Das ist das Erste was er sagt?
„Ich musste mich ablenken", entgegne ich und versuche gleich darauf auf ihn zuzugehen. Ich hasse diese Stille zwischen uns und ich hasse es zu wissen, dass es allein meine Schuld ist.

„Sedat hör zu, ich wollte dich nicht belügen. Ich habe mich einfach in die Ecke gedrängt gefühlt und wusste nicht, wie ich dir das sagen soll oder wieviel ohne dich oder mich zu gefährden"

„Inwiefern könntest du mich oder dich selbst mit der Wahrheit gefährden?" misstrauisch mustern mich seine Augen. Wieviel und vor allem was soll ich ihm sagen?

Tief durchatmend versuche ich die richtigen Worte in meinem Kopf zurechtzulegen.

„Du weißt, dass ich Probleme Zuhause hatte...", beginne ich zu erzählen „Es stimmt, dass mein Vater mich regelmäßig geschlagen hat und ich bin auch nur zum Teil hier in Deutschland aufgewachsen und so wie Yusuf es schon oft genug betont hat, ich sehe nicht gerade deutsch aus", ich ringe mir ein kleines Lächeln ab, doch Sedats Miene bleibt unverändert, was mich zunehmend nervös macht.

„Ich bin in Italien aufgewachsen und mein Vater arbeitet mit zwielichtigen Gestalten, weshalb es für meine Familie wichtig war, dass ich sie anhand ihrer Tattoos oder Aussehen erkenne, für den Fall, dass ich so jemandem begegne."

Nach der abgespeckten Version der Wahrheit versuche ich mich zusammenzureißen, um fortzufahren.
„Es tut mir leid, dass ich dich angelogen habe, aber ich hatte Angst du würdest weitere Fragen stellen, die ich dir nicht beantworten kann."

Sedat verschränkt angespannt seine Arme vor der Brust.
„Was denn zum Beispiel?", will er wissen und sieht mich dabei eindringlich an.

„Meinen richtigen Namen oder den Namen meiner Familie oder wo ich aus Italien herkomme und genauere Details, wieso ich geflohen bin. Bitte Sedat, du musst das, was ich dir gerade erzählt habe für dich behalten, besonders jetzt, wo du mit der Mafia Geschäfte machst. Sie dürfen auf gar keinen Fall wissen, wer ich bin!"

Noch nie habe ich meine Panik so offensichtlich gezeigt, wie jetzt, aber anders würde er es nicht verstehen. Ich darf mich nicht vor ihm verstecken, wenn ich will, dass er mir vertraut.

Mit gezielten Schritten verringert er den Abstand zwischen uns. Seine starre Miene, mit der er mich die letzten Minuten gemustert hat fällt im Sekundentakt in sich zusammen, doch noch immer mit einer gewissen Intensität.

„Danke, dass du mich nicht wieder anlügst, aber du weißt, dass du mir vertrauen kannst. Oder denkst du, dass ich dich verraten würde?"
Mit verschränkten Armen mustert er meine nervöse Aufmachung.

„Nein so meinte ich das nicht. Ich will dich nur nicht in Schwierigkeiten bringen. Je weniger du weißt, desto sicherer ist es für dich."

Tief durchatmend gehe ich einen Schritt auf ihn zu.

„Ich habe Angst, falls sie merken, dass du mehr über mich weißt, dass sie dich so lange foltern werden, bis du es ihnen sagst. Diese Familie ist nicht ohne Grund die gefährlichste in ganz Italien."

Seine Arme lösen sich und mit seiner rechten Hand streicht er eine verirrte Strähne aus meinem Gesicht.

„Egal wieviel Angst du hast mir die Wahrheit zu erzählen, bitte lüg mich nie wieder an.
Ich verzeihe dir zwar jetzt, aber ich weiß nicht, ob ich es ein weiteres Mal tun werde."
Eindringlich betrachtet er mich mit seinen braunen fast schwarzen Augen.

Nickend gebe ich ihm eine stummes Versprechen.

„Und lass mich bitte das nächste Mal nicht fünf Jahre warten"
Ein kleines Grinsen ist in seiner Anmerkung zu hören und genau diese Leichtigkeit nimmt all den Ballast von meinen Schultern und lässt mich endlich wieder aufatmen.
Erleichtert schlinge ich meine Arme um ihn.

„Danke", flüstere ich an seine Schulter.

Die Schwere in mir ebbt immer weiter ab und plötzlich erfüllt es mich wieder mit Kraft. Im nächsten Moment meldet sich mein knurrender Magen zu Wort und macht auf sich aufmerksam.

Ein raues Lachen entflieht Sedats Kehle und reißt mich mit.
Endlich kann ich die duftenden Brötchen genießen, die mir schon die ganze Zeit in die Nase steigen. Einzelne Sonnenstrahlen fluten mein kleines Wohnzimmer und breiten eine samtige Wärme aus, die harmonisch zu meiner Laune auf der Haut kitzelt.

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Capo de la CataniaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt