Kapitel 1

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Auf – ab.

Zehn Schritte nach links – zehn Schritte nach rechts.

Auf – ab.
Einatmen – ausatmen.

Zehn Schritte nach links – zehn Schritte nach rechts.

Lisa blieb vor dem Brautkleid stehen, das in seiner vollen Pracht am Schrank hing.
Sie schüttelte den Kopf.
Nein!
Es ging nicht!

Ein Blick auf ihre Uhr zeigte ihr, dass es schon weit nach Mitternacht war.

Ihr Magen hatte sich verklumpt, ihre Hände waren eiskalt und zitterten.
In ein paar Stunden würde es in diesem Zimmer zugehen wie im Taubenschlag.
Friseur, Visagistin, kichernde Brautjungfern - sie würde keine Sekunde mehr zum Nachdenken kommen.

Ehe sie sich versah, würde sie vor dem Altar stehen, kurz darauf verheiratet sein mit einem Mann, den sie zwar liebte, aber nur wie einen Bruder.

Einem Mann, der sie zwar liebte, aber nur wie eine Schwester.

Sie musste raus hier, sie musste weg.

Auch ihm zuliebe.

Aber die Türe war verschlossen, der altmodische Kasten von Hotel hatte keine elektronischen Schlüsselkarten.
„Zur Sicherheit!", hatte ihr zukünftiger Schwiegervater geätzt. „Damit sich der Bräutigam nicht in der Nacht zur Braut schleicht!" Für sein anzügliches Blinzeln hätte Lisa ihm am liebsten ins Gesicht geschlagen.

Noch ein par Mal lief sie hin und her, ließ dabei das breite Doppelbett nicht aus den Augen, fasste einen Plan. Sie überschlug die Länge der beiden Laken, zog etwas für die Knoten ab, schätzte die Höhe bis zum Boden vom Hochparterre aus, beschloss, dass es klappen musste.

Schnell zog sie die bequemen Klamotten an, die sie für die Fahrt in die Flitterwochen eingepackt hatte, stopfte Autoschlüssel, Geldbeutel, Handy, Ladegerät und eine Flasche Wasser in ihren Rucksack, zog die Laken ab, verknotete sie, befestigte sie am Fensterkreuz. Sie war froh darüber, dass sie in letzter Zeit so oft in der Kletterhalle gewesen war, ihre Arme und Hände waren stark genug für ihr Vorhaben.

Sie schwang sich auf den Fenstersims, krallte sich mit Beinen und Händen an dem „Seil" fest und rutschte langsam los. Aus den Augenwinkeln sah sie zu ihrer großen Überraschung, dass ein paar Fenster weiter rechts eine Person das Gleiche tat.

Und was für ein Brummer von Person! dachte sie, kurz bevor ihre Füße den Boden erreichten. Ob das einer von den Hochzeitsgästen war?

Ein zweiter Blick überraschte sie noch mehr. Der Mann, offensichtlich war es der Statur nach einer, presste sich, mit dem Gesicht zur Wand, die Hände auf die Augen, schwankte unaufhörlich hin und her.

Langsam schlich Lisa durch das taunasse Gras auf den Fremden zu. Sein Verhalten kam ihr so sonderbar und doch vertraut vor.

Als sie ihn vorsichtig an der Schulter berührte, zuckte er zusammen, das Hin- und Herwippen verstärkte sich, noch fester presste er die Hände auf die Augen.

Wie ein Kind, das glaubt, wenn es die Augen schließt, findet es niemand, dachte sie.

„Hallo! Ich bin Lisa", flüsterte sie, um ihn nicht zu erschrecken, aber auch um niemanden im Hotel auf sich aufmerksam zu machen.

Er blinzelte vorsichtig durch seine Finger. Im Licht der Außenstrahler wagte er einen Blick.

Das Schaukeln ließ nach. „Weiß ich", kam es ziemlich undeutlich, sehr langsam und bedacht zurück.

„Du kennst mich?"

Er nickte nur, nahm die Hände ganz vom Gesicht und deutete auf sich. „Bernie."

Mit diesem Namen konnte sie nichts anfangen, doch sie bemerkte schnell, dass der junge Mann Trisomie21 hatte. Früher hatte man das Down-Syndrom genannt, noch früher Mongolismus.

Was sollte sie jetzt tun? Der Junge war offensichtlich auf der Flucht wie sie.

Aber durfte sie ihn einfach hier im Hotelgarten lassen?
Sollte sie ihn mit nehmen?
Er stand sicher unter Pflegschaft, sie sollte ihn wieder ins Hotel bringen.

Aber, wer war er denn?
Alle Zimmer waren mit Hochzeitsgästen belegt.

In ihrem Kopf drehten sich die Gedanken rasend schnell.

Sie musste noch mehr über ihn erfahren.

„Warum bist du aus dem Fenster geklettert?", fragte sie.

„Muss zu Klara!"

Er sah sie hilfesuchend an. „Du?", fragte er dann.

Lisa lachte. „Ich sollte morgen, also besser heute, heiraten!"

Bernie grinste breit, nickte wissend. „Meinen Bruder!" Er fuhr mit der Hand durch ihre blonden Locken. „Hab ein Bild gesehen. Du bist schön! Klara auch!"

Ihr fehlten die Worte eine Weile lang. „Du bist Henrys Bruder?" Niemand hatte je einen zweiten Sohn der von Wertheims erwähnt, auch Henry nicht.
Sie ahnte den Grund der Eltern. Er passte nicht in ihr Lebensbild. Aber ihr Noch-Verlobter war doch allem gegenüber aufgeschlossen, ein sozial eingestellter junger Mann. Nur deshalb hatte sie sich ja vorstellen können, ihn zu heiraten. Weil sie auf derselben Wellenlänge schwammen.

Lisa wurde immer unruhiger. Sie sollte weg. Dringend! Bevor irgendjemand ihre Flucht bemerkte.

Aber sie musste sich auch um Bernie kümmern.

Vorsichtig legte sie die Hand auf seinen Arm. „Ich bringe dich jetzt wieder zurück ins Hotel", schlug sie vor.

Doch augenblicklich fing er an zu schreien, zu brüllen. „Nein! Muss zu Klara!"

Sie versuchte, ihm den Mund zuzuhalten, er biss sie in den Zeigefinger. Die ersten Lichter gingen in den Zimmern über ihnen an. „Sei leise!", zischte sie ihn an und schob ihn um die Ecke des mächtigen Gebäudes, außerhalb des Blickfeldes anderer Gäste.

Erschöpft ließ sie sich auf die gekieste Einfahrt fallen.

Plötzlich kam ihr ein idiotischer Gedanke. Warum war sie eigentlich so waghalsig aus dem Fenster geklettert? Warum hatte sie nicht Henry ganz einfach die Wahrheit gesagt?

Am Morgen, in aller Ruhe?
Sie waren beide erwachsene Menschen.

Doch sie kannte den Grund.
Seine Eltern würden sie zutexten, einlullen, bis sie wieder einknickte.

Ihre Eltern würden sie enttäuscht und traurig ansehen, sie hatten nicht wenig vom Reichtum der von Wertheims profitiert.

Henry würde sie verzweifelt ansehen, war er doch in den Tagen seit der Verlobung viel gelöster gewesen, als wäre eine Last von seinen Schultern genommen worden.

Dem allen war sie nicht gewachsen, sie hatte nie gelernt, sich durchzusetzen, auf sich zu hören und auch zu achten.

Sie arbeitete in letzter Zeit hart daran, das zu ändern, aber dieser Situation, die sich vor ihrem geistigen Auge eben abgespielt hatte, war sie noch nicht gewachsen.

Dann tauchten auch noch wie aus dem Nichts Erinnerungen in ihr auf. An zwei dunkle Augen, sanfte Hände, eine leise Stimme. Sie schüttelte die Gedanken schnell weg, wie so oft in den letzten Tagen. Sie brauchte Zeit, für sich, für Entscheidungen.
Aber was sollte sie mit Bernie machen?


Einfach nur weg  (ONC 2024)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt