Kapitel 21

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Gegenwart 3

Bastian flog durch die Altstadtgassen, das Auto ließ er in der Tiefgarage des Hotels stehen. Zu Fuß wäre er schneller.
Wie schon lange nicht mehr nahm er die Schönheit der Stadt in sich auf, mit allen Sinnen.

Er roch den Sommer in dem kleinen Park, den er durchqueren musste, die Düfte nach Kaffee, als er den großen Platz erreichte, den mittelalterliche Patrizierhäuser säumten, in denen sich zahlreiche Cafés und Speiserestaurants angesiedelt hatten.
Er hörte lachende, glückliche Menschen, ein paar vereinzelte Vögel.
Er sah Sonnenstrahlen, die sich den Weg über die Dächer der Wohntürme bahnten, Kinder, die sich vorsichtig den Tauben näherten, verliebte Paare, die sich küssten.

Aber vor allem fühlte er.
Erleichterung.
Vorfreude.
Liebe.
Eine neue Chance.
Er würde eine neue Chance bekommen.

Atemlos vor Aufregung und Glück drückte er auf den edlen Klingelknopf, als er das Altstadthaus, in dem sie wohnte, erreicht hatte - wie so oft schon in der Vergangenheit, die noch gar nicht so weit zurücklag.

Lisa flog auch - aber durch die Wohnung wie ein aufgeregtes Huhn.
Bastian!
Bastian würde gleich hier sein.
Bastian hatte Bianca verlassen.

Hatte er?
Hatte sie richtig gehört?
Sie rief die Nachricht auf dem Handy noch einmal auf.

Zum dritten Mal?
Oder zum vierten?
„Als ich den Entschluss gefasst habe, Bianca endgültig zu verlassen."
Hieß das, dass er sie verlassen hatte, oder dass er es immer noch nur vorhatte?

Hatte sie zu schnell reagiert?
Ihn zu voreilig zu sich eingeladen?
Zweifel stiegen wieder hoch.

Aber, zweimal: „Ich liebe dich!"
Hatte er das damals je gesagt?
So deutlich?

Damals! Wie das klang! Gerade war es ein paar Wochen her, und doch erschien es ihr wie Ewigkeiten.

Sie würde verstehen, warum er sie zwei Wochen lang geghostet hatte?
Ihr Magen zog sich zusammen, die Wut auf ihn kam etwas zurück.
Da war sie ja mal gespannt!

Duschen!
Sie sollte duschen!
Aber das schaffte sie sicher nicht mehr.
Andererseits - wenn sie nicht gleich zum Türöffner rasen würde, wenn er läutete, hätte er das durchaus verdient.

Ihre Hände fuhren durch ihre total verwuschelten Haare.
Hatte sie sich noch nicht einmal frisiert?

Zähne hatte sie geputzt, daran erinnerte sie sich.
Kaffee!
Sie sollte wenigstens eine Tasse Kaffee trinken.
Aber da stand ja schon eine auf dem Balkontischchen.
Wann hatte sie die denn gemacht?

In diesem Augenblick schlug die Klingel an.
Sie atmete tief durch, setzte sich betont langsam in Bewegung, stand vor dem Türöffner, zählte bis zwanzig.
Das musste als Strafe genügen.

Sie drückte auf den richtigen Knopf, ihr zitternder Finger traf ihn zu ihrer leichten Verwunderung beim ersten Mal.
Es summte, und sie hörte sprintende Schritte, die drei Stockwerke hoch rasten.

Bastian sah sie in der Tür stehen, die für ihn offen stand.
Tat ihr Herz das auch?

Seine Augen sahen in ihr Gesicht, sahen ihr Lächeln, sahen etwas wie ... Liebe?

Vorsichtig nahm er sie in seine Arme, mit dem Fuß schob er die Tür ins Schloss, ohne Lisa loszulassen.

Sie wehrte seine Nähe nicht ab, ihr Kopf sank an seine Schulter. Er atmete ihren Duft ein, den er so lange vermisst hatte, spürte, wie ihr Herz mit seinem um die Wette raste.

Lange standen sie so im Flur und fühlten.
Dass sie wieder ganz waren.
Dass sie wieder heilen konnten.
Dass sie eine Zukunft haben würden.

Einfach nur weg  (ONC 2024)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt