Kapitel 6

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Das erste Jahr - Teil 1

Gustav-Albert von Wertheim bemerkte ziemlich schnell die Veränderung, die mit seinem Sohn vorgegangen war. Er kam spät nach Hause, verschwand auch tagsüber immer öfter aus dem Betrieb, wirkte glücklicher, ausgeglichener als je zuvor.

Als Vater hatte er sich so seine Gedanken gemacht, nun atmete er innerlich auf. Er wusste von dem Unfall, auch, dass Heinrich-Gustav - er war der Einzige, der diesen ganzen Vornamen benutzte - sich sehr um das Mädchen kümmerte, das dabei zu Schaden gekommen war.

Doch der Junge hatte sich wohl auch verliebt - endlich einmal.

Während der letzten Jahre hatte er immer mehr den Verdacht gehabt, sein Sohn wäre eine Schwuchtel. Das würde ihm gerade noch fehlen. Der eine ein schwachsinniger Kretin, der andere ein warmer Bruder. Das waren sicher die versauten Gene seiner hochwohlgeborenen Riccarda Baronesse von Strelitz. Die ganze Inzucht beim Adel, das wusste man ja!

Um ihn zu testen, hatte er vor einigen Wochen eine extra heiße Vorzimmerdame für den Junior eingestellt, sie angewiesen, mit ihren Reizen nicht zu geizen. Doch keine Reaktion von Heinrich-Gustav.
Gut, das bewies jetzt nicht wirklich etwas, sie war vielleicht nicht sein Typ.

Sein eigener dafür umso mehr.

Er beschloss, sich selbst ein Bild von der jungen Frau zu machen, die seit Tagen in der Klinik lag, mit der sein Sohn so viel Zeit verbrachte. Im Krankenzimmer traf er die Eltern der Kleinen, einfache Leute.

Ein Plan formte sich in seinem Kopf, wie ihn nur ein Gustav-Albert von Wertheim ersinnen konnte.
Ein Mann, der sicher war, dass es für Geld alles zu kaufen gab, auch Menschen.

Vor allem Menschen.

Er schleimte die Beiden systematisch zu. Schwärmte von seinem Sohn, davon, wie positiv er sich verändert hatte, seit er mit Lisa zusammen war.

„Wir sind nicht zusammen!", wehrte die ab. „Wir sind höchstens Freunde."
Gustav-Albert lächelte süffisant. „Was nicht ist, kann ja noch werden!", entgegnete er nicht gerade sprachgewandt mit einer Floskel.

Lisa fühlte sich zunehmend unwohl. Sollte es wahr sein, dass Henry verliebt in sie war?

Aber sie hätte doch sicher Anzeichen bemerkt.
Nein! Da war nichts!

Er war nett zu ihr, sie war nett zu ihm, sie mochten sich.
Themen hatten sie genug, um zu reden.

Sie brauchten nur eine Nachrichtensendung anzusehen, schon konnten sie sich eine Stunde über die Dummheit von Politikern aufregen.
Bildungspolitik, Energiepolitik, Außenpolitik, Innenpolitik, Gesundheitspolitik, Verkehrspolitik.
Das Spektrum war unendlich.

Sie lachten gemeinsam über die Kabarettisten, heulten zusammen bei „Titanic" oder „A star is born".

Aber verliebt? Nein, das war er nicht - und sie war es auch nicht.
Gut! Sie hatten denselben Musikgeschmack, lasen ähnliche Bücher, aber das hatte doch nichts mit Liebe zu tun, mit Liebe zwischen Mann und Frau.
Wenn er sie mit dem Rollstuhl in den Garten schob, bemerkte sie schon die schwärmerischen Blicke der einen oder anderen Pflegekraft, männlich oder weiblich.

Doch sie fühlte keine Eifersucht, gemeinsam machten sie sich oft ein wenig lustig über die eindeutigen Avancen.
Okay, er sah gut aus, verdammt gut sogar. Vor allem, wenn er lachte oder lächelte, wenn seine blauen Augen unter der blonden dichten Mähne strahlten, wenn sich Grübchen auf seinen Wangen bildeten.
Außerdem war er ziemlich gut gebaut. Sie sah ihn schon gerne an, aber eher wie eine schöne Skulptur, ein gelungenes Kunstwerk.

Sein Vater allerdings ließ nicht locker, seine Anspielungen zu streuen, sie in den unmöglichsten Momenten anzublinzeln.
Es schien ihm so seltsam wichtig zu sein!

Bei Lisa biss er ziemlich auf Granit mit seinen anzüglichen oder übertrieben fürsorglichen Anspielungen.

Bei ihren Eltern hatte er mehr Erfolg. Sein erster Coup war, dass er mit besorgter Miene von einem Haus erzählte, das er in einem noblen Stadtteil als Geldanlage erworben hatte. „Und jetzt finde ich keine Mieter, die mir zusagen!", behauptete er. „Sie müssten sich halt um den Garten kümmern und das Gebäude auch in Schuss halten."

Dass der Immobilienkauf eigentlich für seine derzeitige Geliebte gedacht gewesen war, verschwieg er. Für die Kleine würde er schon etwas anderes finden, die Leidenschaft hatte sowieso schon wieder mal nachgelassen, wahrscheinlich rentierte sich eine so große Investition gar nicht mehr.

„Sie hätten nicht zufällig Lust, mir aus der Bredouille zu helfen?", fragte er wie nebenbei, als er mit Fritz vor dem Krankenhaus in der Raucherecke stand. „Die Miete würde sich wirklich im Rahmen halten!" Er nannte eine Summe, die unter der lag, die die Bauers im Augenblick für die Altbauwohnung bezahlten.

Gustav-Albert sah das kurze Blitzen in den Augen von Lisas Vater. „Also, das wäre die Warmmiete", fügte er schnell dazu und wusste, dass er einen Schritt vorwärtsgekommen war.
Die Kleine würde seine Schwiegertochter werden, weil er ihre Eltern kaufte.

Nach Wochen wurde Lisa endlich aus dem Krankenhaus entlassen, bei einer ambulanten Reha lernte sie wieder das Laufen auf zwei Beinen.
Henry brachte sie zu ihren Eltern nach Hause, fuhr sie aber täglich in die Klinik zur Bewegungstherapie. Seltsamerweise hatte sein Vater überhaupt nichts auszusetzen daran, dass er deswegen immer wieder von der Arbeit wegmusste.

Henry vermisste die langen Gespräche während der Krankenhauszeit mit seiner Freundin, die nie seine Geliebte werden würde, wie wohl alle erwarteten. Ein Gedanke setzte sich in seinem Kopf fest, den er nicht mehr loswurde.

„Wir könnten doch eine WG gründen, eine Wohnung suchen, in der Nähe der Uni, zusammenziehen", schlug er eines Tages vor.

Lisa lachte los. „Du und ich? Der Prinz und das Aschenputtel?"
Diese Antwort machte Henry wütend.
Er hatte es schon ein paar Mal bemerkt, dass ihr Selbstvertrauen nicht sehr stark entwickelt war, hatte diese Tatsache auch immer wieder angesprochen, hatte versucht sie im Glauben an sich selbst zu bestärken.

Sehr erfolgreich war er noch nicht gewesen.
Das war auch ein Grund, warum er sie aus ihrem Elternhaus raushaben wollte. Dieser Vater und diese Mutter waren nicht gut für seine Freundin.

„Du bist alles andere als ein Aschenputtel! Das dürftest du langsam begriffen haben." Sein Ton war schärfer, als er eigentlich hätte sein sollen.

Lisa nahm ihn in die Arme, den großen kräftigen Kerl, bei dessen Anblick alle Frauenherzen höherschlugen - alle außer ihrem.

„Aber die Miete?", wandte sie halbherzig ein, wusstes sie doch, dass das kein Thema wäre für ihn. Wie erwartet zog er nur sein Unterlid mit einem Finger nach unten.

„Und was werden die Leute von uns denken!" Das nächste Argument, das ihn nur zum Lachen brachte.
„Dass wir ein Paar sind?", zog er sie auf. „Wie fürchterlich!"
„Aber wir sind kein Paar!", hielt sie dagegen.
„Doch! Natürlich! Ein Freundschaftspaar!"

„Und wenn du dich in jemanden verliebst?"

Sein Gesicht verschloss sich. „Das wird nicht passieren!"

Oft grübelte sie in den nächsten Wochen über diese Antwort nach.

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Einfach nur weg  (ONC 2024)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt