Kapitel 15

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Das erste Jahr - Teil 4

„Sag mal! Bist du jetzt eigentlich mit dem Typen zusammen?" Ricki begriff dieses eigenartige Verhältnis von Lisa und diesem seltsamen Henry nicht so recht.

Na ja! Seltsam war er ja nicht wirklich. Er war ein Gentleman der alten Schule - etwas, das selten geworden war - aber er war schon durchaus ein Sahneschnittchen.
Wie konnte die Freundin Tag für Tag mit diesem heißen Typen zusammenwohnen, beinahe ihre ganz Freizeit verbringen, sogar nach New York fliegen - und da lief nichts?

Gar nichts?
Nicht einmal unverbindlicher Sex?
Oder überraschender Sex?
Oder leidenschaftlicher Sex?

Kein Prickeln, kein Kribbeln, einfach - nichts?

Lisa grinste die Freundin an. Ricki war kein Kind von Traurigkeit. Wenn sie einen Typen heiß fand, sagte sie ihm das ziemlich deutlich.
Manchmal kassierte sie eine Abfuhr, manchmal eine großartige Nacht - oder auch mehrere.

Lisa wünschte sich oft, ein wenig wie Ricki zu sein. Das Spiel zwischen Mann und Frau so locker sehen zu können.

Sie war zwar keine Jungfrau mehr, aber sehr viel an Erfahrung konnte sie nicht vorweisen. Allerdings vermisste sie auch nichts - also nicht wirklich.

Oder nur ein bisschen?
„Dann wird es Zeit, dass ich dein Liebesleben in die Hand nehme!", beschloss Ricki.

Lisa grinste kopfschüttelnd. „Okay! Mach nur!"
Sie sah zu, wie die Freundin einen Typen antanzte, ein paar Worte mit ihm wechselte, mit dem Kopf auf Lisa zeigte.
Die wollte am liebsten im Erdboden versinken.
Ricki zog das allen Ernstes durch!

Doch der junge Mann schien interessiert zu sein, stellte sich neben Lisa an die Bar, begann ein Gespräch, das nicht sooo platt war wie andere, die sie schon manches Mal hatte führen müssen.

Sven war durchaus unterhaltsam, sah gut aus, tanzte nicht schlecht, wie sich herausstellte.

„Und?", fragte Ricki, als sie kurz alleine an der Bar standen.

Lisa zuckte mit den Schultern.

„Mach dich doch mal locker!", forderte die Freundin sie auf. „Der Typ ist doch mehr als interessiert!"

„Und was erwartest du jetzt von mir? Ich kenne ihn kaum, und woran er mehr als interessiert ist, kann ich mir schon vorstellen!", wehrte Lisa ab, doch ihr Widerstand bröckelte ganz langsam.

„Ja klar! Er will mit dir ins Bett! Aber wenn du bis ans Ende deines Lebens Händchen halten willst oder mit deinem Bestie Filme gucken willst, bitte schön! Deine Entscheidung!" Ricki ging zurück auf die Tanzfläche. Da war ein ganz passables männliches Exemplar aufgetaucht.

Den Rest des Abends verbrachte Lisa mit Sven, der auch sehr gut küsste, wie sich recht schnell herausstellte.
Als der Club schloss, sah er sie mit einem süßen Dackelblick seiner grauen Augen an.

„Kommst du noch auf einen Kaffee mit zu mir?", fragte er lächelnd.
Lisa lächelte zurück. „Aber nur, wenn du eine Briefmarkensammlung hast."

Lachend und albernd liefen sie durch die nächtlichen Altstadtgassen zu seiner Wohnung, die nur ein paar Ecken von ihrer mit Henry entfernt lag.
Kurz dachte sie daran, dem Freund Bescheid zu geben, dass sie nicht nach Hause kommen würde in dieser Nacht. Doch Henry verbrachte zurzeit selbst immer seltener die Nächte in den gemeinsamen vier Wänden.

Bei diesen Gedanken musste sie schmunzeln. Scheinbar hatte ihn doch einmal die Liebe erwischt. Sie würde es ihm gönnen. Aber warum machte er ein so großes Geheimnis daraus?

Hatte er doch Angst, dass sie eifersüchtig werden würde?
Aber das Thema sollte doch wirklich durch sein!

Sven zog alle Register der Verführungskunst: Gedimmtes Licht, leise, romantische Musik, ein Glas richtig gekühlten Sekt, ein sanftes Lächeln, zärtliche Berührungen. Sie schmolz in seinen Armen dahin, weil sie das ganz und gar nicht kannte.

Doch am frühen Morgen schlüpfte sie leise in ihre Kleider und verließ die Wohnung. Er hatte ihrem Körper gutgetan, doch ihr Herz war vollkommen unbeteiligt geblieben.

Von Ricki bekam Sven Lisas Nummer, meldete sich ein paar Tage später.
Ihr Hals wurde trocken, als er seinen Namen nannte. Doch er trug ihr nicht nach, dass sie ohne ein Wort verschwunden war.
„Das ist deine Entscheidung gewesen!", erklärte er locker. „Doch normalerweise bekommen die Frauen ein Frühstück bei mir!"

In Lisa gluckste ein Lachen hoch. Der Typ war gut drauf, das stachelte auch ihre Wortgewandtheit an. „Das nächste Mal weiß ich Bescheid", gab sie zurück. Sie plauderten noch eine Weile, verabschiedeten sich zufrieden über das unverbindliche Gespräch, aber ohne sich zu verabreden.

Lisa war sehr zufrieden mit sich, Ricki war es auch - also mit ihrer Freundin.

In den nächsten Wochen traf sich Lisa hin und wieder mit Sven.

Dann kam Bastian.
Er war der erste Mann, bei dem ihr Herz schlug, bevor ihr Körper hatte reagieren können.

Sie machte ein Praktikum an einer Grundschule, er war Klassenlehrer einer Inklusionsklasse und ihr Betreuer.
Sein herzliches Lächeln, seine leise Stimme, die liebevolle Art, wie er mit seinen Schülerinnen und Schülern umging, nahmen sie vollkommen für ihn ein.

Nach Schulschluss suchte sie seine Nähe, versuchte mit tausend Fragen den Zeitpunkt, an dem er das Schulhaus verließ, hinauszuzögern.
Doch er schien es nie eilig zu haben, setzte sich bereitwillig mit ihr ins Lehrerzimmer, schenkte ihr Kaffee ein, diskutierte mit ihr Für und Wider von Inklusion, akzeptierte ihre Meinung, nahm sie ernst, fragte sie nach Rat zu einem schwierigen Fall.

Sie flirteten nicht, nie, doch sie genossen beide diese Stunden.

Bastian dachte viel an Lisa, auch zu Hause, wenn Bianca ihn wieder einmal ziemlich betrunken empfing.
Nicht an sie als Frau, mit der er ins Bett wollte, aber als Frau, mit der er sicher hätte glücklich sein können. Sie war zwar sehr jung, aber sie hatte Ansichten, die sich mit seinen zu hundert Prozent deckten.

Schnell hatte er auch ihre soziale Ader kennen und lieben gelernt. Er hasste es zunehmend, die Zeit mit ihr abzubrechen, diskutierte in Gedanken immer weiter mit ihr.

Bianca nahm nicht wahr, wie oft er an Nachmittagen, am Wochenende oder auch spätabends auf dem Sofa lag, ein seltsames Grinsen im Gesicht hatte, oder war es eher ein Lächeln?

Dann war Lisas zweiwöchiges Praktikum zu Ende, und er wusste, er würde sie vermissen.

Vielleicht auch mehr als das.

Lisa sah dem letzten Tag an der Schule mit einem großen Knäuel im Magen entgegen. Verliebt hatte sie sich sicher nicht - aber er würde ihr fehlen.
Seine ernste Art, was seinen Beruf betraf.
Sein Humor, wenn er sich selbst auf die Schippe nahm.
Nie hatte er auch nur den geringsten Versuch unternommen, mit ihr zu flirten, zweideutige Ansagen zu machen, eindeutige schon gar nicht.

Er sah sie wohl als die kleine Praktikantin, die nicht gerade doof war.
Aber er sah sie sicher nicht als Frau, die als Partnerin für ihn infrage kam.

Außerdem trug er einen breiten goldenen Ehering.
Ein ganz klein wenig hoffte sie darauf, dass er sie nach der allerletzten Schulstunde um ein Wiedersehen bat, kein Date, aber ein harmloses Treffen.

Doch er winkte ihr nur zu und verließ schnell das Schulhaus, als hätte er es besonders eilig.

Sie ahnte nicht, wie sehr Bastian mit sich gekämpft hatte. Er wusste, er musste nur noch dieses eine Mal durchhalten, sie aus seinem Leben gehen lassen, dann würde er vergessen können.

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Einfach nur weg  (ONC 2024)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt