Gegenwart 1
Am nächsten Morgen brachte Henry Lisa nach Hause. Nervös tigerte er durch die Wohnung.
„Hau schon ab!", forderte seine beste Freundin ihn auf, und ohne zu zögern stürmte er aus dem Haus. Er war sich vollkommen klar darüber, dass er nachdenken sollte, dass er das Gespräch mit seinem Vater suchen sollte, dass er sich über seine Zukunft klar werden sollte – doch die Sehnsucht in ihm schrie nach Ray.
Die Sehnsucht – und auch panische Angst.
Was würde er vorfinden?
Wen würde er vorfinden?Einen Junkie, der wieder an der Nadel hing?
Einen Stricher, der wieder an seiner alten Ecke auf Freier wartete?Die Gefahr war groß, dessen war er sich bewusst. Ray würde noch nicht stabil genug sein, um diesen erneuten Verlust zu verkraften.
Wie egoistisch hatte er gehandelt!
Er machte sich die schlimmsten Vorwürfe, und er wusste, dass er sie sich zu Recht machte.Tränen liefen über sein Gesicht, sein Herz raste vor Panik.
Endlich hatte er einen Parkplatz in der Nähe von Rays Unterkunft gefunden. Von einer Wohnung konnte man beim besten Willen nicht sprechen. Ein Zimmer mit einem Waschbecken und einem Tisch, auf dem ein Elektrokocher stand.
Toilette auf dem Gang, Duschen im Keller.
Ein noch unsanierter Altbau, aber bezahlbar für Ray.Als er im Laufschritt das Haus erreicht hatte, drückte er beinahe von Sinnen vor Angst auf den schäbigen Klingelknopf. Nichts rührte sich.
Wahllos fuhr sein Finger über die anderen Knöpfe, irgendwann - nach gefühlten Stunden - hörte er schlurfende Schritte. Die Alte vom dritten Stock öffnete maulend die schwere, verzogene Haustür.
„Was will der feine Herr denn?", fragte sie grinsend, zeigte ein lückenhaftes Gebiss. Alkoholnebel umgab sie.„Ich muss zu Herrn Brenner!", stieß Henry hervor.
Die Alte kicherte wie eine böse Hexe. „Das Jüngelchen ist nicht da!"Henry hatte es geahnt!
Er würde ihn da suchen müssen, wo er ihn gefunden hatte. Mit einem Herzen schwerer als aus Blei drehte er sich um, versuchte, das Zittern in Griff zu bekommen.Die Tür fiel wieder ins Schloss, er hatte das Gefühl, diesen Ton nie wieder vergessen zu können.
Den Ton der Endgültigkeit.Er sollte gehen, er sollte zu der Ecke gehen, doch er war sich nicht sicher, dass er das schaffte.
Wenn Ray sich wieder aufgegeben hatte, würde er das nie verkraften.Das fällt dir aber reichlich früh ein, du verdammter Idiot! hörte er eine Stimme in seinem Kopf.
Eine böse Stimme.
Eine gehässige Stimme.
Aber eine, die die Wahrheit sagte.Er sank auf die steinerne Türschwelle, die Generationen von Menschen ausgetreten hatten, ließ seinen Kopf in die Hände auf seinen Knien sinken.
Schritte kamen näher, schnelle Schritte, die auf dem Altstadtpflaster klackten. Es war ihm egal, ob ihn jemand sah, wie er vor diesem heruntergekommenen Haus saß.
Doch die Schritte liefen nicht an ihm vorbei, sie hielten vor ihm an.„Was willst du hier?", hörte er, und die Stimme, die er so gut kannte, ließ ihn hochschnellen.
Er griff nach dem jungen Mann, der vor ihm stand, wollte ihn in seine Arme reißen. Doch der andere schubste ihn von sich, sein Blick war hasserfüllt, aber klar. Das erkannte Henry innerhalb einer Sekunde.Ein riesengroßer Felsblock rollte von seiner Seele.
Ray war nicht auf Droge, zumindest im Moment nicht.„Was du willst, habe ich gefragt!", wiederholte Ray, und sein Ton war nicht eine Spur freundlicher.
Henry fühlte sich wie ein Schuljunge, der sich für einen dummen Streich rechtfertigen sollte. Aber das war in Ordnung – vollkommen. Denn er hatte bei Gott mehr getan, als Ray einen dummen Streich zu spielen.
Er hatte ihn verraten, verkauft – an seinen Vater.
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Einfach nur weg (ONC 2024)
RomanceAm Vorabend ihrer Hochzeit mit Heinrich-Gustav von Wertheim, von allen außer seinem Vater Henry genannt, überfällt Lisa die schiere Panik. Ohne lange darüber nachzudenken, flüchtet sie aus dem Hotel, auf einem nicht gerade üblichen Weg. Doch diese I...