Kapitel 23

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Rebekka stand vor dem Spiegel im Luxusbad des teuersten Hotels der Stadt und betrachtete entsetzt das Bild, das ihr daraus entgegensah. Tief eingegrabene Falten um den Mund und um die Augen, ein trauriger, verhärmter Blick, farblose Lippen, fahle Haut, strähnige Haare.

Von der hübschen Baronesse, der so viele junge Männer den Hof gemacht hatten, war nicht viel zurückgeblieben.
Eigentlich gar nichts.
Sie hatte viele Fehler gemacht, das war ihr im Lauf der Jahre an Gustav-Alberts Seite immer bewusster geworden.

Der erste und größte, der, der ihr Leben bestimmt hatte, war gewesen, den Eltern nachzugeben, als diese beschlossen hatten, dass der millionenschwere Unternehmer Gustav-Albert von Wertheim der richtige Ehemann für sie wäre.

Das Gutshaus der Familie war stark renovierungsbedürftig, Land- und Forstwirtschaft brachten nicht mehr genug Geld ein. Da kam ein reicher Bewerber um die Hand der Tochter gerade recht.

Rebekka hatte weder von der Liebe noch vom Leben eine Ahnung gehabt, ließ sich auf den verhängnisvollen Handel ein. Anfangs war der um einiges ältere Industrielle durchaus galant, und sie konnte sich ein Leben an seiner Seite vorstellen. Mit neunzehn war sie verheiratet, mit zwanzig Mutter eines Sohnes.
Ob das ein Ziel ihres Lebens gewesen war?
Sie hatte nie darüber nachgedacht.

Ihre Bücher hatten ihr immer vorgegaukelt, wie die Liebe war.
Die Realität sah anders aus.

Nach der Geburt verlor Gustav-Albert mehr oder weniger das Interesse an ihr. Der Erbe war geboren - das schien ihm zu genügen. Sie war zu unreif gewesen, um sich um ihr Kind zu kümmern. Nannys übernahmen das, und sie ließ es zu. Auch, dass sie hin und wieder das Bett ihre Ehemannes mit ihm teilten. Getrennte Schlafzimmer hatten sie von Beginn dieser Ehe an.

Sie war dankbar, dass sie keine Windeln wechseln musste, und dass sie den schnarchenden Mann nicht Nacht für Nacht neben sich hören musste, dass sie stattdessen in ihrer Traumwelt weiterleben konnte. Jahre später hatte ihr Ehemann wohl in jener verhängnisvollen Nacht keine Gespielin gefunden, um seinen Testosteron-Überschuss loszuwerden.

Als klar war, dass sie wieder schwanger war, fiel sie in ein schwarzes Loch. Zu spät suchte sie einen Arzt auf, da war sie schon im vierten Monat. Ein Test brachte das Ergebnis, dass das Kind an Trisomie21 litt.

Gustav-Albert tobte wie ein Verrückter, wollte sie zur Spät-Abtreibung zwingen. Doch zum ersten Mal widersetzte sie sich energisch. Ihr Arzt unterstützte sie in ihrem Wunsch, den Jungen auszutragen. Weitere, genauere Untersuchungen zeigten keine Schäden an Organen oder Gliedmaßen.

Ihr Ehemann versteckte sie in den nächsten Monaten vor der Öffentlichkeit. Das schmerzte nur wenig. Sie hatte es immer gehasst, an der Seite des erfolgreichen Unternehmers in der Öffentlichkeit zu stehen. Nun brauchte sie nicht einmal mehr nach Ausreden zu suchen.

Daran zu denken, ihn zu verlassen, war ihr nie in den Sinn gekommen. Ihre Eltern waren zufriedengestellt, sie hatte das Gut der Familie gerettet.
Nur ganz selten muckten ihre Gedanken auf.
Wozu?
Für welche Familie?
Sie war das einzige Kind.
Wofür hatte sie sich geopfert?

Doch diese Gedanken waren schnell vergessen. Geschichten fesselten sie, zogen sie in ihren Bann. Das wirkliche Leben hatte keinen Platz in ihrem.
Die Schwangerschaft mit Bernhard änderte viel.
Es war, als hätte ein Weckruf des Schicksals sie wachgerüttelt.

Einen Sohn hatte sie geboren, als sie in einer Traumwelt gelebt hatte, die sie damals noch nicht verlassen wollte.
Doch dann, zehn Jahre später, war sie bereit, das wirkliche Leben anzunehmen, wenigstens einen Teil davon

Die Diagnose, dass dieser zweite Sohn beeinträchtigt zur Welt kommen würde, hatte auch dazu beigetragen, sie ein kleines Stück erwachsen werden zu lassen.

Gustav-Alberts Befehl, Bernhard gleich nach der Geburt in ein Heim zu geben, stimmte sie zu, denn sie hatte einen Plan gefasst.

Sie würde dieses Kind aufwachsen sehen – und Gustav-Albert würde nichts davon mitbekommen.
Sie würde ihn hintergehen, nicht mehr kuschen und gehorchen.
Achtzehn Jahre lang besuchte sie Bernie, gab sich als Tante eines schwer gehandicapten Mädchens, das auch in diesem Heim lebte, aus, nahm sich der Kleinen liebevoll an, die keine Familie zu haben schien – wie ihr eigener Sohn.
Mal aus der Ferne, mal etwas näher, hatte sie am Leben ihres Kindes teilgenommen.

Hatte jeden Entwicklungsschritt Bernies erfahren dürfen, hatte sein Lachen gehört und hin und wieder seine Tränen getrocknet, wenn sie gerade in der Nähe war. Großzügige Spenden, vom Privatkonto ihres Mannes ohne sein Wissen abgezweigt, unterstützen die Heimleitung über Jahre hinweg, sorgten für Kleidung ihres hünenhaften Kindes wie auch der des kranken Mädchens, ihrem Alibi, das ihr auch ans Herz gewachsen war.

Als Henry schließlich das Geheimnis um seinen Bruder entdeckt hatte, musste sie vorsichtiger sein, musste darauf achten, dass er ältere Sohn sie nicht in der Einrichtung entdeckte. Er hätte sie sicher zur Rede gestellt, Gustav-Albert hätte von ihren Besuchen erfahren können.

Doch jetzt und hier war es genug. Bernie von einer Angestellten abholen zu lasse und in ein Hotelzimmer einzusperren, ihn mit all seinen Ängsten alleine zu lassen, war genau der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte.

Sie würde gehen, brauchte all dieses Geld, diesen Luxus, diesen Pomp nicht. Bald würde sie Fünfzig werden, sie konnte noch einige gute Jahre haben.

Die, die sie verloren hatte – aus Feigheit, Dummheit, Unterwürfigkeit – würde sie nicht mehr zurückbekommen. Aber sie würde keinen einzigen Tag von ihrer Zukunft mehr verschwenden.

Sie musste Henry erreichen, musste ihn in ihre Pläne und in ihr weiteres Leben einbeziehen. Sie konnte nur hoffen, dass ihr Ältester ihr verzeihen würde.

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Einfach nur weg  (ONC 2024)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt