Kapitel 5

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Ein Jahr zuvor - Teil 2

Lisa erwachte von lautem Scheppern, Stimmengewirr, schlurfenden Schritten, sich öffnenden und wieder ins Schloss fallenden Türen.

Mühsam öffnete sie die Augen.

Gleißendes Licht schmerzte.
In ihrem Kopf tobte es, ihr rechtes Bein fühlte sich bleischwer an, lag auf einem Gestell, schräg nach oben.

Sie versuchte sich in dieser unbequemen Lage umzusehen. Ein großer Raum mit fünf Betten, darin ihr völlig unbekannte Frauen, die sich unterhielten, Infusionsständer.

Die Luft war zum Schneiden dick, es roch nach Kaffee, Körpern, Ausscheidungen.
Übelkeit stieg in ihr hoch.

Krankenhaus!
Wie war sie ins Krankenhaus gekommen?
Was war passiert?

Eine Pflegehilfe stellte wortlos ein Tablett auf dem Nachtkasten neben ihr ab.

Ihr Hals war ausgedörrt, sie versuchte, wenigstens das Glas Wasser zu erreichen.
Es gelang nicht.

Tränen schossen in ihre Augen, doch dann siegte die Erschöpfung, sie dämmerte wieder weg.

Sie begann zu träumen.
Einen seltsamen Traum.

Ein junger Mann beugte sich zu ihr, sprach auf sie ein, sie verstand kein Wort.

Ihr Bett wurde bewegt, in einen Aufzug gerollt, wieder bewegt.

Ruhe umgab sie, himmlische Ruhe.

Als sie aufwachte, war diese himmlische Ruhe noch immer nicht dem Lärm gewichen. Sie sah sich wieder um, sie war allein in einem Raum.
Was war geschehen?

Langsam tauchten Fragmente in ihrem Gehirn auf.
Der Club – Ricki – Henry – Lachen – Spaß – ein Motorrad ...

Danach – nichts!

Ein großes, dunkles Nichts.

Sie spürte eine Bewegung in ihrer Nähe, in ihrer Nase einen angenehmen Duft, der die antiseptischen Gerüche bezwang.
Verschwommen sah sie einen jungen Mann, der zusammengesunken auf einem Stuhl neben ihrem Bett kauerte.

„Hallo!", krächzte sie, und der lange Kerl schoss so schnell hoch, dass sie grinsen musste. Das lag sicher auch an den Medikamenten, die durch die Nadel in ihrer linken Hand in ihre Venen flossen.

Sie fühlte sich leicht, hatte keine Schmerzen mehr, hatte auch keine Angst – nur Durst.
„Lisa!", stöhnte der junge Mann. Henry hieß er, glaubte sie sich zu erinnern. „Du bist wach!"

Seine Erleichterung war beinahe greifbar.

*

Henry hatte den Abend unheimlich genossen. Das hübsche Mädchen machte es ihm so leicht, sich zu entspannen, einfach nur er selbst zu sein. Er fühlte sich unglaublich zu ihr hingezogen, nicht körperlich, aber seine Seele hatte sich ihr sofort geöffnet.

Nach nur einem Tanz hatten sie sich nur noch unterhalten – und das war fantastisch gewesen. Sie hatte so vernünftige Ansichten, war auf der einen Seite sehr ernsthaft, doch sie hatten auch zusammen lachen können.

Er hatte das Gefühl, dass es ihr mit ihm ähnlich erging. Viel zu schnell war die Zeit verflogen, viel zu früh hatte der Club geschlossen. Ohne zu zögern war sie auf seine Maschine gestiegen, hatte sich an ihm festgehalten.

Sie war die perfekte Beifahrerin, legte sich in die Kurven, als hätte sie ihr Leben lang nichts anderes getan. Er hatte Träume von gemeinsamen Ausflügen, Picknick, Baden in der Donau, war womöglich abgelenkt.

Er wusste nicht, ob er hätte reagieren können, als der PKW trotz grüner Ampel in seiner eigenen Richtung aus einer Seitenstraße schoss. Er selbst konnte sich nach dem Sturz der Maschine abrollen, doch das schwere Gefährt klemmte Lisas Bein ein.
Der Krankenwagen und der Notarzt brauchten gefühlte Stunden, bis sie endlich ankamen.
Die Sanitäter versicherten ihm, dass Lisa stabil war, wohl keine inneren Verletzungen hatte.

Er konnte sie nicht begleiten, die Polizei brauchte seine Aussagen.

Nachdem die Ermittlungen am Unfallort abgeschlossen waren, fuhr er mit einem Taxi sofort in die Klinik.

Lisa war im Gipsraum, sie hatte einen komplizierten Splitterbruch am rechten Schienbein erlitten. Obwohl er kein Angehöriger war, informierte ihn eine junge Ärztin darüber, dass nicht operiert und eine Platte eingesetzt werden konnte, dass der Knochen einfach heilen musste. Als er sah, dass Lisa in einem Fünfbettzimmer untergebracht wurde, setzte er alle Hebel in Bewegung, damit sie in ein Einzelzimmer verlegt werden konnte.

Er unterschrieb auch einen Vertrag auf Chefarztbehandlung, leistete mit seiner Kreditkarte eine Abschlagszahlung.

Danach war ihm etwas wohler, fühlte er sich nicht mehr so schuldig.

Nun saß er an ihrem Bett, wartete, bis sie wieder ganz zu sich kam.

„Warum bin ich hier?", fragte sie, nachdem sie endlich mit Henrys Hilfe einen großen Schluck hatte trinken können.

Er erzählte von dem Unfall, langsam kam die Erinnerung bei ihr wieder zurück. Der lange Kerl strich sich die blonden Haare aus dem Gesicht, sah sie schuldbewusst an. Lisa griff nach seiner Hand. „Du kannst wirklich nichts dafür", versuchte sie ihn zu beruhigen, es gelang nur bedingt. Doch natürlich war er froh, dass sie ihm keine Vorwürfe machte.

Nachmittags trafen dann schließlich ihre Eltern ein.

„Sorry! Ging nicht eher! Wir müssen schließlich arbeiten", erklärte ihre Mutter.

Es ging eben nie ohne Spitze.

„Wieso liegst du in einem Ein-Bett-Zimmer?", schob ihr Vater nach. „Das wird deine Studentenversicherung bestimmt nicht bezahlen."

Schon wieder das liebe Geld.

Henry wunderte sich nicht einmal sehr über das Verhalten ihrer Eltern. Sie hatte am Abend zuvor einige Andeutungen gemacht.

Er stand auf und stellte sich den Beiden vor. „Heinrich-Gustav von Wertheim. Ich habe mich darum gekümmert", erklärte er und musste beinahe lachen. Zum einen über die dämlichen Vornamen, die sein Erzeuger ihm bei seiner Taufe auferlegt hatten, zum anderen, weil er das begehrliche Glitzern in den Augen von Fritz und Sabine Bauer aufglimmen sah.
Sein Name war bekannt in der Stadt, das Werk seines Vaters der größte Arbeitgeber am Ort.

„Das ist ja das Mindeste, das Sie machen können für unsere Kleine", gab die Mutter zum Besten und wischte sich eine Krokodilsträne aus den Augenwinkeln.

Lisa konnte nicht mehr. Wenn die jetzt nicht sofort gingen, würde sie einen Schreikrampf bekommen. „Ich bin müde und habe Schmerzen", stöhnte sie theatralisch.

Sehr böse war Fritz jetzt auch nicht darüber, das Fußballspiel im Fernsehen würde bald anfangen.
„Sind Sie morgen auch wieder da?", fragte er sicherheitshalber. Der Junge musste sich schon ein wenig melken lassen! Wenigstens ein ordentliches Schmerzensgeld rüberwachsen lassen. Vielleicht reichte es auch für einen Breitbild-Fernseher wie sein Kumpel Kurt einen hatte.

Von diesem Tag an verbrachte Henry jede freie Minute in Lisas Krankenzimmer. Er versorgte sie mit mehr als genug von ihren Lieblingsspeisen, sah mit ihr fern, las ihr aus Büchern vor, unterhielt sich mit ihr oder schwieg mit ihr.

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Einfach nur weg  (ONC 2024)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt