Kapitel 7

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Zurück im Jetzt - Teil 1

Lisa rappelte sich von ihrem Sitzplatz auf dem Schotterweg des Hotels hoch. Ihr war klar, dass sie dringend weg sollte. Und wenn sie Bernie nicht überreden konnte, wieder ins Hotel zurückzugehen, musste sie ihn eben mitnehmen.
Über die Folgen konnte sie später nachdenken, im Augenblick war ihr Gehirn nicht mehr dazu fähig.
„Also komm!", seufzte sie. „Fahren wir!"
Seine großen kindlichen Augen leuchteten auf, das Licht der Außenlaternen spiegelte sich in ihnen.

„Klara    suchen?", fragte er selig strahlend.
„Ja! Aber nicht heute Nacht!" Sie fühlte sich ausgelaugt, todmüde.

Mit dem fast zwei Meter großen und etwas übergewichtigen Kerl an der Hand taumelte sie mehr, als dass sie lief, zu ihrem Auto. Der vollkommen überdimensionierte SUV war ein Hochzeitsgeschenk ihres „Schwiegervaters", der die Zeichen der Zeit wohl nie begreifen würde. Eine Spritschleuder wie diese Karre würde sie schnellstmöglich wieder loswerden.

Vor allem das süffisante Grinsen, als er ihr die Schlüssel überreicht hatte – theatralisch wie immer – und die nicht minder süffisanten Worte: „Da passt locker ein Kinderwagen rein!" ließen ihr Herz noch immer rasen.
Wie hatte ein Mann wie er zwei solche Söhne zeugen können?

Den perfekten Henry, den er absolut nicht verstehen, geschweige denn lieben konnte.
Den wunderbaren Bernie, den er wohl vor der Welt, die seine, aber nicht ihre war, versteckt hatte. Warum Henry da mitgespielt hatte, verstand sie zwar nicht im Geringsten, aber sie begriff heute sowieso nicht mehr allzu viel.

Bernie hatte Mühe, seine Körpergröße sogar in diesem riesigen Wagen unterzubringen.

„Bin zu groß! Und zu dick! Sagt Klara auch!", brummelte er vor sich hin.

Lisa lächelte ihn an. „Bist du nicht! Jeder ist in Ordnung, so wie er ist!"
Er strahlte sie an. „Ich  auch?"
Sie drückte seinen Arm liebevoll. „Du ganz besonders!"

Sie startete den Wagen, ließ ihn langsam vom Parkplatz rollen. Die Karre machte einen Höllenlärm, sie wollte keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen.

Als sie die Landstraße erreicht hatte, begann sie erst einmal nachzudenken, wohin sie überhaupt sollten.
Auf keinen Fall in die  Wohnung, die sie sich mit Henry teilte. Ihm wollte sie im Augenblick nicht unter die Augen treten. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, wie er ihre Flucht aufnehmen würde.

Hätte sie mit ihm gesprochen, hätte er sicher Verständnis gezeigt. Aber ihn so stehen zu lassen, vor all den Gästen aus der Gesellschaft und der adligen Familie seiner Mutter, war vielleicht auch bei all seiner Großzügigkeit  ihren Macken gegenüber etwas zu viel.

Er war immerhin der Juniorchef eines weltweit agierenden Unternehmens. Sie sollte wohl erst einmal telefonieren, die Fronten klären, seine Stimmung ausloten. 

Klar, das war feige!
War ihm gegenüber nicht fair.

Doch irgendeine hoffnungsvolle Stimme in ihr flüsterte ihr zu, dass er verstehen würde.
Dass sie den Freund nicht verloren hatte, weil sie ihn als Ehemann nicht hatte haben wollen.

Auch das Haus, in dem ihre Eltern mittlerweile wohnten, war keine Option. Das schon gar nicht.

Noch immer konnte sie nicht fassen, dass ihr Vater und ihre Mutter die Absichten Gustav-Alberts nicht durchschaut hatten. 
Oft und oft hatte sie versucht, den beiden ins Gewissen zu reden.
Bei jedem der überdimensionierten Geschenke aufs Neue.
Doch nichts hatte gefruchtet.
Sie hatten ihr letzendlich sogar vorgeworfen, undankbar zu sein, ihnen all die unverhofften Gaben zu missgönnen.

So lebten die Eltern also mittlerweile in einem piekfeinen Haus in einem piekfeinen Viertel.
Ihr Vater bekam sogar noch einen festen Satz als Gärtner und Hausmeister bezahlt.
Die Ideen, sie auf seine Seite zu ziehen, sie buchstäblich zu kaufen, gingen Gustav-Albert nie aus.

Aber erst einmal zum naheliegensten Problem, holte sie ihre abschweifenden Gedanken zurück.

Als Übernachtungsmöglichkeit blieb eigentlich nur ein Hotel.
Sie grübelte.
Das einzige, das ihr im Moment entlang der Strecke, die sie eingeschlagen hatte, einfiel, war eines an der Autobahn nach Nürnberg.
Sie grinste vor sich hin. Hoffentlich war es teuer! Endlich wollte sie die goldene Kreditkarte, die Gustav-Albert ihr aufgenötigt hatte, einmal benutzen.

Ein Blick auf Bernie zeigte ihr, dass er eingeschlafen war. Die ganze Aufregung des heutigen Tages war zu viel für ihn gewesen.
Sie selbst wurde von Minute zu Minute wacher. Das Adrenalin schoss durch ihre Blutbahn.

Der Nachtportier war ziemlich ungehalten über die späten Gäste, vor allem, als er sah, dass der riesige Kerl auch noch behindert war. Ein Mongo! Die konnten ja manchmal ganz schön aggressiv werden, hatte er gehört.
Der da sah zwar eher müde und friedlich aus, aber er hoffte, dass sich niemand von den anderen Gästen von dem Riesen gestört oder bedroht fühlte.

Was wohl die hübsche Kleine mit dem zu tun hatte?

Lisa ahnte seine Gedanken und wurde wütend. Eigentlich hatte sie ja gehofft, dass die Vorurteile Menschen mit Handicap gegenüber irgendwann einmal einschlafen würden. Einfach so. Über Nacht.

Arroganter als sie war, hob sie ihren Kopf, kramte die Kreditkarte in Gold aus ihrer Handtasche, legte sie dem Portier vor die Nase.

Eigentlich knallte sie sie ja auf den Tresen.

„Zwei Einzel- oder ein Doppelzimmer?", fragte der ältere Herr. Die Mühe, Meldescheine auszufüllen, sparte er sich.

Das verstand Bernie, und die Angst, wieder allein in einem Zimmer eingesperrt zu werden, überfiel ihn mit Macht.
„Nicht allein!", stammelte er.
Lisa seufzte auf. „Ein Doppelzimmer!", bat sie dann.

Der Rest der Nacht verlief wie in einer Komödie.
Bernie schlief ein - kaum, dass sein Kopf  das Kissen berührt hatte.

Und sobald er schlief, begann er zu schnarchen - aber  wie!
Außerdem hatte das Bett eine einteilige Matratze, er wog mindestens das Doppelte von ihr, sie rollte ständig auf seine Seite.

Wieder begann sie, ihren Entschluss zu bereuen. Eigentlich war das eine Schnapsidee gewesen!
Ihre Augen füllten sich mit Tränen.

Doch dann besann sie sich, dass Bernie nach seiner eigenen Flucht ja ohne sie ziemlich hilflos gewesen wäre.
Es hatte wohl so sein müssen, dass sie beide sich trafen, im Garten eines Hotels, warum auch immer und auf eine etwas ungewöhnliche Weise.

Irgendwann übermannte die Müdigkeit sie doch. Rücken an Rücken mit Bernie, der unbeweglich wie ein Fels da lag, die Ohren mental gegen seine Sägegeräusche verschlossen, fiel sie in den tiefen Schlaf der seelischen Erschöpfung.

Sorgen konnte sie sich auch morgen noch machen.

Die überfielen sie dann auch mit geballter Macht, als sie gegen neun Uhr aufwachte und ihr Handy einschaltete, das sie sicherheitshalber ausgemacht hatte.
Nahezu unzählige Sprach- und Textnachrichten fand sie darauf, die meisten von Henry, gefolgt von einem wütenden Gustav-Albert. Ihre Eltern hatten es wohl mehr oder weniger pflichtschuldig nur einmal versucht.

Der erste Text von Henry war noch locker-flockig, und sie musste lächeln.
Doch bei den letzten Sätzen klang er doch außer sich, vor allem aus Sorge um Bernie.

Da verstand sie, was sie angerichtet hatte. Zwar hatte sie keine Ahnung, wie Henry zu seinem Bruder stand – bisher. Aber er klang ziemlich verzweifelt.
„Bitte, Lisa! Melde dich! Ist Bernie bei dir? Er ist auch aus dem Fenster geklettert wie du!"

Sofort wählte sie Henrys Nummer.

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Einfach nur weg  (ONC 2024)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt