Gegenwart 6
Bastian und Lisa liefen durch die sommerverwöhnte Stadt – und noch nie war sie ihnen so schön vorgekommen. An der Donau, die wie ein breites glitzerndes Band vor ihnen lag, ließen sie sich auf einer Bank nieder.
Ihr Kopf lag an seiner Schulter, sein linker Arm umfasste ihre. Es war ihnen egal, ob sie gesehen wurden. Die Zeit des Versteckens war vorbei.Leicht strichen seine Finger über die nackte Haut, die ihr enges Top freiließ.
Bevor er ihr die Frage stellen konnte, die seit dem Wiedersehen und Wiederfinden auf seiner Seele brannte, musste er sich räuspern. Die Erregung, die unaufhaltsam in ihm aufstieg, schlug auf seine Stimme. „Könntest du, könntest du - dir vorstellen, eine Beziehung mit mir zu führen?", brachte er schließlich heraus.
Sie drehte ihr Gesicht zu ihm, lächelte ihn auf diese ganz bestimmte Art an, die er so liebte. „Ich habe ein wahnsinnig gutes Vorstellungsvermögen", antwortete sie.
„Das ist gut!" Er schloss seine Augen, um die Tränen daran zu hindern, einfach loszufließen.Dann sprang er auf, riss sie zu sich hoch. „Lass uns was essen gehen!"
Lass uns ins Bett gehen! schrie sein Freund.Habe ich dir nicht gesagt, dass es heute keinen Sex gibt? fuhr er ihn im Geist an.
Maulend zog sich der zurück.Sie tanzten zu einer Musik, die nur sie wahrnahmen, zurück auf den Haidplatz, fanden einen freien Tisch in der Lieblingspizzeria von ihnen beiden. Sie zogen viele Blicke auf sich -
neidische wie verständnisvolle.Die junge Bedienung mit den blau-violett gefärbten Haaren erkannte Lisa auf den ersten Blick.
Ey! Ein Foto von der Braut, die abgehauen war, auf ihrem Account! Das würde Klicks ohne Ende bringen!
Sie hatte das Handy schon gezückt, als sie ein Blick Lisas traf.
Tu das nicht! signalisierte ihr der. Lass mir mein Privatleben.
Die junge Frau steckte das Smartphone in die Tasche der engen Jeans, straffte ihre Schultern und fragte voll Stolz auf sich: „Was wollt ihr trinken? Die Karte bringe ich gleich." Sie wunderte sich nur kurz, dass diese Lisa den tollen von Wertheim verlassen hatte, wohl wegen dem durchschnittlich aussehenden Typen da neben ihr.Ja, ja! Wo die Liebe eben hinfiel!
Als sich das Liebespaar, das endlich eines sein durfte, sich gerade die perfekte Pizza schmecken ließ, sich turtelnd gegenseitig fütterte, kam ein junger Mann auf sie zu, der Lisa vage bekannt vorkam.
Bastian seufzte unwillig auf „Hallo, Peter", begrüßte er den offensichtlich nicht gern gesehenen Typen.
Da erinnerte sich Lisa an Bastians Kollegen, der sie während ihres Praktikums ziemlich offen angebaggert hatte.
Ungefragt ließ sich Peter an ihrem Tisch nieder, sah süffisant grinsend von Bastian zu Lisa. Er griff nach Bastians Weinglas, nahm einen großen Schluck.
„Und ihr beide genießt die Ferien?" Seine Frage war mehr als nur ein bisschen anzüglich. „Hast du nicht geheiratet?", wandte er sich an Lisa.Die wurde stocksauer. Was mischte dieser Schleimer sich denn in ihr Leben ein? „Doch schon!", antwortete sie. „Im Anschluss an die Trauung bin ich in die Flitterwochen geflogen. Hier sitzt nur ein Avatar von mir."
Peter fühlte sich leicht überrumpelt von der schnippischen Kleinen, die ihn schon während des Praktikums ziemlich oft hatte auflaufen lassen. Und jetzt saß sie hier, in aller Öffentlichkeit, turtelte mit Bastian, diesem Durchschnittstypen, der nicht nur um etliches älter als sie war, sondern auch verheiratet.
„Wie geht es Bianca?", konnte er sich nicht verkneifen zu fragen.
Bastian blieb ruhig. „Ich denke, gut. Wir haben uns getrennt."
Peter lachte provozierend auf. „Wegen ihr?" Sein Kopf zeigte auf Lisa. „Das wird den Chef freuen, wenn er erfährt, dass sein bestes Pferd im Stall etwas mit einer Praktikantin anfängt!"Bastian konnte nur den Kopf schütteln über diese dumme Drohung des Schleimers. Sein Chef war ein absolut liberal eingestellter Mann, der Leistung immer erkannte und würdigte.
Peter kam eben nicht in den Genuss dieser Anerkennung, weil er faul war und lustlos seinen Job erledigte, das Schulhaus mit dem Schlussgong verließ, schlecht vorbereitet und oft krank war – also blau machte.
„Lauf doch schnell zu ihm und petze!", schlug er dem Jüngeren zu. „Willst du noch ein Beweisfoto machen?"Lisa sah dem Idioten nach, der aufgesprungen war, wobei er den Tisch so zum Wackeln gebracht hatte, dass beinahe die Gläser umgefallen waren.
„Spinnt der eigentlich?", fragte sie mehr rhetorisch als ernsthaft.
Bastian sah das Ganze locker, fand den Auftritt des Kollegen im Grunde nur kindisch und peinlich – für den anderen.Doch der Kollege hatte ein Stichwort genannt, das Lisa nicht mehr aus dem Kopf bekam: Bianca.
Ein wenig hatte sie ja den ganzen Tag darauf gewartet, dass seine Frau anrufen würde wie damals so oft.
Und da sie beschlossen hatten, in Zukunft über alles zu sprechen, was ja sehr nötig war, wenn sie eine Beziehung wagen wollten, fragte sie: „Wie hat es deine Frau eigentlich aufgenommen, dass du sie verlassen hast?"Bastian wich ihrem Blick aus, fühlte sich im Augenblick ziemlich schlecht und feige. Doch er hatte weggemusst aus diesem Haus, hatte Zeit gebraucht, um sich über seine Zukunft klar zu werden.
Der Grund für sein Flucht aus seinem bisherigen Leben war ja zu diesem Zeitpunkt nicht ursächlich Lisa gewesen. Er war ja der Meinung, sie hatte geheiratet. So erklärte er es ihr jetzt auch.Sie dachte eine Weile nach. „Du solltest aber schon mit ihr sprechen. Derart wortlos verlassen zu werden, hat sie nicht verdient, und du fühlst dich ja sicher auch nicht wohl dabei."
Bastian sah sie bewundernd an, für ihre 22 Jahre war sie erstaunlich weise. Dankbar drückte er ihre Hand. „Ich werde morgen zu ihr fahren und versuchen, mich mit ihr auszusprechen, eine Lösung für die Zukunft zu finden." Er küsste sie zärtlich. „Jetzt habe ich ja einen Grund, mich nicht wie ein Feigling zu benehmen. Gestern war mir das vollkommen egal."
Die junge Bedienung kam mit der Rechnung, das Lokal schloss. Engumschlungen legten sie den kurzen Weg zu Lisas Wohnung zurück. Ein Blick nach oben zeigte ihr anhand der erleuchteten Fenster, dass Henry zu Hause war.
Das schlechte Gewissen dem Freund gegenüber, stieg wieder in ihr hoch.
Bastian verstand, ohne dass sie ein Wort sagen musste. „Geh zu ihm – er wird dich brauchen. Ich bin überglücklich über das, was ich heute mit dir erleben durfte. Mehr könnte ich gar nicht ertragen."Diese feinfühligen Worte machten Lisa klar, dass sie ihn wirklich liebte – und dass er es wert war, geliebt zu werden.
Es war all die Wochen, die sie mit ihm zusammen gewesen war, mehr als Schwärmerei, mehr als guter Sex, mehr als Verliebtheit gewesen. Auch wenn er nicht der großartige Held war, wenn er Fehler machte, Ecken und Kanten hatte - vielleicht auch gerade deswegen.Nach einem langen Abschiedskuss, der nichts forderte und gerade deshalb alles gab, schloss sie die Tür auf und stieg mit klopfendem Herz und verträumtem Blick nach oben.
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30.132 Wörter bis hier
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Einfach nur weg (ONC 2024)
RomanceAm Vorabend ihrer Hochzeit mit Heinrich-Gustav von Wertheim, von allen außer seinem Vater Henry genannt, überfällt Lisa die schiere Panik. Ohne lange darüber nachzudenken, flüchtet sie aus dem Hotel, auf einem nicht gerade üblichen Weg. Doch diese I...