Kapitel 28

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Der nächste Tag I

Am Morgen fuhr Bastian gleich nach dem Aufstehen zu Bianca. Auf seinem Handy, das er gestern bewusst ausgeschaltet gelassen hatte, waren zahlreiche Anrufe seiner Frau gespeichert. Sie hatte keine Nachrichten hinterlassen, ahnte wohl – auch wegen der wenigen Worte auf dem Zettel – dass er nicht mit ihr sprechen wollte.

Ich kann das hier im Augenblick nicht mehr, hatte er hingekritzelt. Jetzt bereute er diesen feigen Abgang - jetzt, da es Lisa wieder in seinem Leben gab.

Wieder?
Nein, in seinem Leben gab es sie zum ersten Mal.

Die Monate vorher hatten nichts mit dem Leben zu tun gehabt, und doch war es mehr gewesen als eine Bettgeschichte, sonst hätte es den gestrigen Tag nicht gegeben.

Das Gespräch mit Bianca gestaltete sich ausgesprochen unerfreulich und eskalierte vollkommen, als er ihr gestand, dass er sich verliebt hatte. Sie hatte schon immer ein ziemlich loses Mundwerk gehabt, aber all die Schimpfwörter, die sie ihm jetzt an den Kopf warf, toppten alles Vorhergegangene.
Er blieb überraschend ruhig, ließ alle Tiraden auf sich niederprasseln, driftete in Gedanken ab, dachte an Lisa.

„Bist du fertig?", fragte er gelassen, als sie aus Luftmangel eine Pause machen musste. „Dann geh ich mal packen."
Er duckte sich gerade noch rechtzeitig unter dem Glas weg, das in seine Richtung geflogen kam.
Der Rotwein lief an der Tür hinunter.
Klar! Um acht Uhr morgens war schon Zeit für einen Schoppen! dachte er bitter.
„Vielleicht solltest du dir Hilfe suchen", sagte er laut und ging hinauf ins Schlafzimmer, warf einen Großteil seiner Klamotten in den größten Koffer, den sie besaßen.

Er atmete tief ein. So hatte er sich die Aussprache nicht vorgestellt, also nicht so schlimm. Was sollte er tun?
Sie fesseln und knebeln, damit sie ihm zuhörte?

Er ging noch einmal ins Wohnzimmer zurück, wollte noch einen Versuch starten.
„Können wir uns nicht etwas Würde bewahren?", fragte er leise. „Bianca! Bitte! Ehen zerbrechen. Wir sind vielleicht, also wahrscheinlich, beide schuld, dass es bei uns nicht geklappt hat."

Doch außer Unflätigkeiten bekam er keine vernünftige Antwort. Er sah, dass sie ein neues gefülltes Glas vor sich hatte, ging lieber, bevor das auch noch geflogen kam. Da musste er wohl ihre Familie bitten, sich um sie und ihr Alkoholproblem zu kümmern. Er kam im Moment nicht an sie ran.

Kurz überlegte er, ob er gleich zu Lisa fahren konnte. Aber sie sollten wohl erst telefonieren, er sollte es langsam angehen lassen, ihr Zeit geben, sie nicht zu sehr vereinnahmen. Also lenkte er seinen Wagen in Richtung des Hotels. Vielleicht ergatterte er ja noch ein Frühstück.

Doch danach musste er unbedingt Lisa anrufen.
Oder vorher noch?
Ja, vorher noch!

Lisa hörte seiner Stimme die Verzweiflung sofort nach seinen ersten Worten an. „Es ist nicht gut gelaufen?", fragte sie vorsichtig.
„Nein, gar nicht!", brachte er hervor, bevor Tränen zu laufen begannen. Dann berichtete er, von Schluchzern unterbrochen, vom Gespräch mit Bianca.
„Komm zu uns!", schlug sie vor, als er zu Ende gesprochen hatte.

„Ja, das wäre gut. Danke! Aber erst muss ich mich ein wenig fangen!", antwortete er und beendete das Gespräch. Er hatte keine Stimme mehr. Er ließ sich auf das Bett fallen, heulte sich erstmal richtig aus.

Kaum hatte Lisa aufgelegt, schlug die Klingel an. Henry war gerade beim Zähneputzen, deshalb sprang sie schnell zum Türöffner.

Sie hatte keine Ahnung, wer am späten Montagmorgen vorbeikommen sollte, öffnete aber, ohne nachzudenken, die Tür.
Vor ihr stand ... ihr derzeitiger Lieblingsfeind Gustav-Albert.
Er sah schlecht aus, aber ihr Mitleid hielt sich in Grenzen.

Einfach nur weg  (ONC 2024)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt