[Fünfzehn] - Unerwartete Konfrontation

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Der Montag erwischt mich hart. Naddy hat am Wochenende wirklich alles getan, um mich auf andere Gedanken zu bringen. Diesmal aber nicht wegen meinen Gefühlen zu Jolene, sondern wegen denen zu Morgan. Sie ist der Meinung, mein Zustand ist aktuell so labil, dass ich nichtmal mehr zwischen Jolene und Morgan unterscheiden kann.
Völliger Blödsinn, wenngleich ich nicht bestreiten kann, was am Freitag beinahe passiert wäre.
Nach so einem Wochenende ist der Start in die Woche etwas ruckelig. Mental bin ich vollkommen erschöpft und körperlich total am Ende. Meine Konzentration ist quasi bei Null und entsprechend erfülle ich mein Arbeitspensum. Nämlich gar nicht. Ich weiß nicht mal, was ich die letzten acht Stunden getan habe, ich bin nur froh, dass sie endlich vorbei sind und ich nach Hause fahren kann.

Die Erschöpfung rutscht in die hinterste Ecke, als ich auf dem Weg zu meinem Auto plötzlich von jemandem angesprochen werde, der mir mehr als bekannt ist.
»Was willst du denn hier?«, frage ich geschockt, als ich meinem Vater entgegensehe.
»Ich möchte mit dir reden.«
Wütend über sein Erscheinen, ignoriere ich ihn und setze meinen Weg fort. Ich möchte nicht mit ihm reden. Ich möchte weder seine blöden Lügen hören noch sein Gesicht sehen.
»Kind, liebes«, spricht er fast schon liebevoll und eilt mir nach. »Lass uns reden.«
»Es gibt nichts zu reden!«
»Bitte lass uns das friedlich klären«, sagt er und bittet mich erneut, stehen zu bleiben und ihm zuzuhören.
Erst als ich an meinem Auto angekommen bin, drehe ich mich ihm zu. »Friedlich klären?«, frage ich zynisch. »Friedlich klären, nachdem du erst einer Mutter den Säugling nahmst und ihn entführt hast? Nachdem du eine Frau und ihr Kind einfach verlassen hast? Nachdem du ein weiteres Kind sich selbst überlassen hast? Nachdem du deine eigenen Töchter aus dem Nichts auf Unterhalt verklagst?«, zähle ich wütend auf. »Von friedlich kann hier nicht mehr die Rede sein. Du bist ein egoistischer und schlechter Mensch!« Ich schnaube aufgebracht und sehe ihm direkt in die Augen. »Dir scheint sogar jedes Mittel recht. Du schreckst nicht mal davor zurück, die Justiz zu belügen.«
»Ich belüge niemanden!«, widerspricht er.
Ungläubig schüttle ich den Kopf. »Für einen Pflegefall stehst du aber gerade sehr gesund vor mir.«
»Es gibt Erkrankungen, die sieht man nicht«, argumentiert er und zeigt auf seinen Kopf.
»Ja, dein Kopf ist zweifellos ein Pflegefall. Spätestens seit 1993, als du auf diese grandiose Idee kamst, ein Baby zu entführen.«
»Ich habe dich nicht entführt!«, verteidigt er sich und sein angespannter Ausdruck wird wütend. Sein Gesicht errötet, weil er sich beherrscht. »Du bist meine Tochter!«, faucht er dann. »Und ich habe dich nicht zu solch einer undankbaren Göre erzogen!« Er bäumt sich ein wenig bedrohlich vor mir auf. »Ich habe alles für dich getan, um dir ein schönes Leben zu ermöglichen! Und als Dank lässt du deinen alten Herren in der Not alleine und hetzt stattdessen deine Anwältin auf mich?«
Ich bin so geschockt über diese Aussage, dass ich beinahe lachen muss. Ich will darauf etwas erwidern, kann es einfach nicht, weil ich vor Fassungslosigkeit sprachlos bin.
Er denkt wirklich, er ist hier das Opfer?
»Mich zu entführen, um mich dann mir selbst zu überlassen, nennst du ein schönes Leben? Wozu hast du mich überhaupt meiner Mutter entrissen, wenn du gar nichts mit mir anfangen konntest?«
»Deine Mutter hat uns verlassen!«, beharrt er wütend.
Ich verspüre das Bedürfnis, dem zu widersprechen, weil ich seit Jahren die wahre Geschichte kenne, aber ich weiß auch, wir würden uns dann nur im Kreis drehen. Also atme ich einfach tief durch und öffne mein Auto.
»Caitlyn, bitte!«, fordert er und greift nach meiner Autotür, um zu verhindern, dass ich einfach einsteige. »Du bist meine Tochter und ich liebe dich.«
»So, wie du auch Katleen liebst? Oder Kate?«, entgegne ich zynisch und stelle wieder ein wenig Abstand zwischen uns her.

In diesem Moment sehe ich meine Mutter mit Naddy an ihrer Seite zu uns auf den Parkplatz kommen und atme erleichtert durch, weil ich dadurch jetzt nicht mehr mit ihm alleine bin.
»Ruby?«, fragt meine Mutter geschockt, als sie ihn wohl sofort erkennt.
Er dreht sich um und scheint ebenfalls geschockt zu sein, meine Mutter zu sehen. »Was hast du in diesem Land zu suchen?«, faucht er sie an.
»Meine Tochter«, antwortet sie. »Du hast sie hierhin verschleppt, falls du das vergessen hast«, wirft sie ihm vor. »Im Gegensatz zu dir, liebe ich sie tatsächlich. Aufrichtig. Und zwar jeden Tag aus tiefsten Herzen und nicht nur, wenn ich etwas von ihr brauche.«
Für einen Moment schweigt mein Vater und mustert meine Mutter ausgiebig. »Es war richtig, sie mitzunehmen«, sagt er dann und verzieht angewidert das Gesicht. »Du bist ein Krüppel, wie hättest du dich da um sie kümmern sollen?«
Ich ziehe die Luft scharf ein, halte meine Worte aber zurück, als ich sehe, wie meine Mutter zu lächeln beginnt und ihn fast schon bemitleidend ansieht.
»Und doch wäre ich trotz Rollstuhl fähiger gewesen, mich um sie zu kümmern, als du es getan hast«, kontert sie gelassen. »Ich bin wirklich froh, dass sie trotz der mangelnden Fürsorge ein solch guter Mensch geworden ist und ich an ihrem Leben teilhaben kann. Du weißt gar nicht, wie wertvoll das ist und was du wegen deiner egoistischen Mission verpasst.«
Das Talent meiner Mutter: Stets Ruhe bewahren und Angriffe mit purer Souveränität abwehren.
Auch mein Vater merkt, dass er bei ihr keinen Treffer landen kann und wendet sich schließlich wieder mir zu.
»Caitlyn.«
»Sie sollten jetzt gehen, Mister«, schaltet sich Naddy dann aber forsch ein und hält ihr Handy bedeutend nach oben, wo sie bereits die Nummer des Notrufs gewählt hat, um zu bedeuten, den Anruf sonst gleich zu tätigen.
Er schenkt ihr nur einen kurzen abschätzigen Blick und sieht wieder mich an. »Na, schön«, sagt er schnaubend. »Du hast es nicht anders gewollt. Wenn du mir nicht helfen willst, werde ich dich dazu zwingen und dich solange verklagen, bis du keinen Cent mehr hast!«, droht er wütend und dreht sich schließlich um. Auch meiner Mutter schenkt er noch einen hasserfüllten Blick, ehe er schließlich wirklich geht.
Meine Anspannung löst sich und ich atme hörbar aus.
»Ist er jetzt wirklich von Pittsburgh nach Miami, nur um diese Show abzuziehen?«, kommentiert Naddy ein wenig amüsiert, sieht mich dann aber wieder ernst an. »Du solltest Amber davon berichten«, empfiehlt sie mir dann.
»Und Jolene«, pflichtet meine Mutter betonend bei.
Noch immer fassungslos vom Auftreten meines Vaters schüttle ich den Kopf, nicke aber dann, um ihnen zuzustimmen.
Wortlos drehe ich mich meinem Auto wieder zu und steige ein.
»Bis morgen«, verabschiede ich mich eher beiläufig, weil mein Kopf immer noch dabei ist, die letzten Minuten zu verarbeiten.

Jolene (+ Love)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt