[Vierzehn] - Fast beinahe

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»Mrs. Schuster hat mich vorhin angerufen«, berichte ich Jolene, als wir wieder unseren Wechselfreitag haben und ich meine Laptoptasche packe. »Sie wollte wissen, ob wir uns entschieden haben.«
Es sind schließlich bereits drei Wochen vergangen und bisher haben Jolene und ich noch nicht darüber geredet, wie wir mit der Situation umgehen sollen.
Auch der Kontakt zu Katleen findet seither nur über Nachrichten statt, weil sie viel unterwegs ist, aber wenn wir schreiben, dann geht es meist darum, uns einander kennenzulernen. Immerhin haben wir 35 Jahre nachzuholen.
Aber Kate ist genauso meine Schwester und im Gegensatz zu Katleen noch schutzbefohlen und auf die Unterstützung von Erwachsenen angewiesen.
»Wie denkst du darüber?«, fragt mich Jolene, weil ich sie abwartend ansehe.
Mich überfordert das Thema immer noch ein wenig und meine Gedanken springen hin und her. Unschlüssig, welche Entscheidung die bessere ist.
Natürlich wünsche ich mir für meine kleine Schwester ein schöneres, besseres und vor allem sorgenfreies Leben. Ich möchte, dass sie wohl behütet und geliebt aufwächst. Aber sind wir bereit dazu, das zu übernehmen? Bin ich es denn? Sie ist noch ein Kind, jünger als Chester, aber trotzdem meine Schwester. Kann das denn funktionieren?
»Ich weiß es nicht«, gestehe ich seufzend. »Ich will ihr helfen, aber nicht aus den falschen Gründen.« Ich schnaube und reibe mir verzweifelt die Stirn. »Ich will sie nicht bei mir aufnehmen, nur damit mein Vater nicht mit seiner List durchkommt. Wenn ich sie aufnehme, dann nur, weil ich sie liebe. Aber das tue ich nicht, denn ich kenne sie überhaupt nicht. Sie ist eine Fremde.« Ungefiltert sprudeln meine Gedanken über meine Lippen, während ich auf und ab laufe und mich emotional immer mehr wegen dieser absurden Situation reinsteigere. »Aber selbst wenn wir uns dazu entscheiden, sie aufzunehmen«, sage ich, bleibe stehen und sehe Jolene an, »gibt es immer noch diese Situation hier.« Bedeutend zeige ich auf uns beide. »Wie sollen wir das schaffen? Wie gehen wir damit um?«
»Diese Situation hier?«, fragt Jolene und imitiert meine Geste. »Meinst du unsere Trennung?«
Schweigend nicke ich.
»Das ist nicht auf meinen Mist gewachsen«, wehrt sie sich. »Von mir aus können wir damit wieder aufhören und zu unserer Ehe zurückkehren.«
»Du hast dem zugestimmt, Jolene«, entgegne ich schnaubend. Vielleicht kann eine Jolene einfach einen Haken hinter all das setzen, was passiert ist und zu unserer Trennung geführt hat. Ich aber nicht. In meinen Augen haben wir noch so viel zu regeln und wieder aufzuarbeiten. Einfach wieder zurückkehren ist nicht möglich. Vor allem nicht wegen eines fremden Kindes.
»Weil mir keine andere Wahl blieb, Cait!«, antwortet sie schroff. »Gewollt habe ich es trotzdem nicht.«
»Ich bin immer noch der Meinung, es wäre viel schlimmer geworden, hätten wir uns nicht getrennt«, rechtfertige ich mich.
Jolene nimmt einen tiefen Atemzug, um darauf etwas zu sagen, hält aber inne, als sich unsere Haustür öffnet und Chester das Haus betritt.

»Oh«, entkommt es ihm, als er uns erblickt und ansieht. »Ihr streitet euch gerade«, stellt er fest.
»Wir diskutieren«, antworte ich kopfschüttelnd.
»Nein, wir streiten uns«, widerspricht mir Jolene und schenkt mir einen provozierenden Blick. »Deine Mom schafft es nämlich nicht, den Elefanten wieder zu einer Mücke zurückzuverwandeln«, fügt sie zynisch hinzu, ohne unseren Blickkontakt zu unterbrechen.
Empört schnaube ich, weil sie das vor unserem Kind einfach so ausspricht.
»Ach, komm schon!«, gibt Jolene von sich. »Chester ist alt genug. Er weiß genau, was hier gerade Sache ist.«
»Genau«, stimmt ihr Chester zu. »Ihr benehmt euch bescheuert.«
Jolenes Ausdruck wird etwas spöttisch. »Siehst du? Er hat es verstanden. Jetzt musst nur noch du das verstehen.«
Jetzt weicht meine Empörung dem Ärgernis; darüber, weil Jolene im Beisein unseres Sohnes unser Problem derart klein redet und sich darüber sogar noch lustig macht.
»Okay, ich hole nur eben meine Schwestern und dann lassen wir euch alleine«, sagt Chester und setzt sich in Bewegung.
Irritiert sehen wir ihn beide an und er begründet das Vorhaben.
»Wenn wir nicht da sind, ist die Wahrscheinlichkeit, dass euer Streit dort endet ...« Er zeigt zum Gästezimmer, »wesentlich höher, als wenn wir alle da sind. Ich will nicht, dass einer von euch wieder wütend abhaut!« Ohne auf eine Antwort von uns zu warten, verschwindet er die Treppen nach oben und ruft seine Schwestern, um sein Vorhaben in die Tat umzusetzen.

Jolene (+ Love)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt