[Sechzehn] - Einigung

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Ich fülle mein Whiskeyglas zum dritten Mal, um es direkt wieder zu leeren, während mich Jolene einfach schweigend beobachtet.
»Ich möchte nicht, dass er das Sorgerecht für Kate bekommt«, sage ich. »Er benutzt sie nur als Einnahmequelle. Das hat sie nicht verdient.« Ich laufe etwas unruhig auf und ab; Jolenes Augen folgen mir stets. »Aber sie nur deshalb bei uns aufnehmen wäre auch nicht richtig!«
»Der positive Aspekt kommt dir dabei nicht in den Sinn?«, fragt sie und wirkt ein wenig belustigt. »Du machst es ja nicht, um deinem Vater das Vorhaben zu vermiesen, sondern um einem Kind eine bessere Alternative zu bieten.«
»Es nicht irgendein Kind, Jolene«, entgegne ich. »Da taucht eine Frau vom Jugendamt auf und erhofft sich von uns, ein Kind zu adoptieren, das wir überhaupt nicht kennen. Wir werden niemals ihre Eltern sein, weil ich ihre Schwester bin. Das ist etwas völlig anderes. Und was, wenn sie bereits durch ihre ersten Lebensjahre bei solchen Eltern ein Trauma erlitten hat und völlig verkorkst ist? Was, wenn das Leben im Heim sich ebenfalls auf sie auswirkt? Wir haben selbst noch zwei kleine Kinder, die wir beschützen müssen. Ich will nicht-«
»Cait!«, unterbricht sie mich in meinem Redefluss und der daraus drohenden Panikattacke.
Ich drehe mich dem Sideboard wieder zu und fülle mein Glas ein viertes Mal.
Jetzt reagiert Jolene, die aufsteht, zu mir kommt und mir das Glas aus der Hand nimmt. Sie ext den Schluck selbst, stellt das Glas aufs Sideboard und schiebt mich von diesem weg, damit ich keinen weiteren Whiskey trinke.
»Ich will sie kennenlernen«, sage ich und verlasse das Haus nach draußen auf die Terrasse in den Garten, wo ich beginne, die Spielsachen unserer Kinder einzusammeln, weil ich irgendwas tun muss. »Ich will sie kennenlernen, bevor ich überhaupt irgendeine Entscheidung treffe. Denn diese Entscheidung treffe ich schließlich nicht nur für mich, für dich, für uns, sondern auch für sie.«
Jolene ist mir nach draußen gefolgt, beobachtet mich und lässt mich einfach wüten.
»Wir sind Mrs. Schuster auch immer noch eine Antwort schuldig. Wir können das nicht ewig hinziehen, aber ich ...« Ich halte inne, weil mir die Luft ausgeht und ich kurz davor bin, meine Nerven zu verlieren.
Jolene setzt sich in Bewegung, kommt auf mich zu und nimmt mich einfach in den Arm. In genau diesem Moment brechen die Emotionen aus mir heraus.
»Dann lass uns sie kennenlernen«, sagt sie mit sanfter Stimme. »Ich rufe Mrs. Schuster an und vereinbare ein Treffen mit Kate.«
»Sie ist in Kanada«, erinnere ich sie, löse mich von ihr und wische mir die Tränen weg.
»Dann reisen wir nach Kanada«, tut sie es ab.
»Und die Kinder?«
Kurz schmunzelt Jolene. »Ich bin mir sicher, wir werden in diesem Freundes- und Familienkreis einen Babysitter finden.«
Ich schüttle leicht den Kopf. »Du willst sie nicht mitnehmen?«
»Wir sollten Kate nicht direkt überfordern.«
Während ich zustimmend nicke, atme ich tief durch. Ihre sanfte Art und ihre beruhigende Umarmung helfen mir dabei, mich wieder zu entspannen und einen klaren Kopf zu bekommen.
Ich schmiege mich regelrecht an sie, weil es sich gut anfühlt und ich die Energie spüre, die mir neue Kräfte verleiht.

»Seid ihr fertig mit streiten?«, hören wir dann Rileys Stimme, die in der Terrassentür steht und uns fast schon genervt ansieht.
Verwundert sehen wir sie an. »Wir haben uns nicht gestritten«, antworte ich.
»Aber du hast Mum angeschrien.«
Irritiert sehe ich zu Jolene auf, dann wieder zu Riley. »Ich habe sie nicht angeschrien«, weise ich zurück. »Ich war aufgebracht«, gestehe ich, »aber nicht wegen ihr. Wir haben uns nicht gestritten.«
»Oh«, entkommt es ihr überrascht, dann lacht sie kurz, aber spöttisch. »Das ist dann jetzt aber doof.«
Jolenes Augenbraue hebt sich, weil sie diese Aussage gerne näher erklärt haben möchte.
»Wir dachten, ihr streitet euch wieder«, erklärt Riley. »Deshalb ist Quinn jetzt ausgezogen.«
»Ausgezogen?«, fragen Jolene und ich im Chor.
Riley zuckt nur mit den Schultern und nickt. »Sie hat ihren Rucksack gepackt und gesagt, sie zieht aus.«
»Und du dachtest, es wäre nicht nötig, sie davon abzuhalten oder uns Bescheid zu sagen?«, will Jolene mit strenger Stimme wissen.
Nachdenklich kratzt sich Riley am Kopf. »Nein«, sagt sie. »Die kommt doch sowieso bald wieder. Die hat ja nur zwei Unterhosen und ein paar Kekse eingepackt. Nicht mal was zu trinken.«
Jolene schließt kurz ihre Augen und atmet tief durch. »Weißt du wenigstens wo sie hinwollte?«, fragt sie genervt und sieht Riley an.
Wieder zuckt diese mit den Schultern. »Sie will zu Tante Morgan.«
»Morgan ist aber in New York«, sage ich verwundert.
Erneut zuckt Riley mit den Schultern, nickt aber.
Jolene und ich sehen jetzt einander kurz an und stürzen dann wie am Fädchen gezogen los. »Sie wird doch nicht ...?«, beginne ich, traue mich aber nicht, meine Vermutung auszusprechen. Vom Esstisch greife ich meine Tasche, in der sich auch mein Handy befindet, falls ich es gleich brauchen werde und verlasse das Haus durch die Eingangstür.
»Sie ist du in Miniatur, also nicht abwegig«, entgegnet Jolene, die mir folgt und Riley mit sich zieht, der das überhaupt nicht gefällt und hörbar protestiert. Erfolglos.
Nur mürrisch setzt sie sich auf die Rückbank und schnallt sich an, während sich Jolene ans Steuer unseres Vans setzt und ich mich neben sie auf den Beifahrersitz.
Da Riley Morgan erwähnt hat, ist unsere Anlaufstelle deren Haus in unserer Nachbarschaft. Aber dort können wir keine Quinn sehen. Im Haus kann sie nicht sein, da keiner zu Hause ist. Amber ist schließlich noch in der Kanzlei und Morgan in New York, weil sie sich die ganze Woche vor Ort um ihre Bank kümmert und zugleich auch Hazel einarbeitet, die kürzlich ihr Studium erfolgreich beendet hat. Das war schließlich die Voraussetzung, damit Hazel diese Anstellung überhaupt bekommt.
Unsere Befürchtung, Quinn ist auf dem Weg zum Flughafen, weil sie nach New York will, steigt. Deshalb fahren wir zügig über die Brücke, von Insel zu Insel bis zum Festland. Stets die Augen überall, um Quinn entdecken zu können. Denn wenn sie zum Flughafen will, muss sie hier lang.
»Glaubst du, sie könnte den Bus genommen haben?«, frage ich unsicher, weil ich mir nicht vorstellen kann, dass Quinn uns zu Fuß so weit voraus ist.
»Ich denke nicht«, sagt Jolene. »Aber ich will es nicht ausschließen.« Also lenkt sie den Wagen weiter und fährt exakt die Route, die auch der Bus fahren würde, in der Hoffnung, irgendwo unsere kleine Tochter zu entdecken.
Auch wenn ich mir nicht vorstellen kann, dass sie bereits so weit gekommen ist, rufe ich trotzdem meinen Stiefvater an, der am Flughafen arbeitet. Er versichert mir sofort, vor Ort Ausschau nach Quinn zu halten und sämtliches Personal davon in Kenntnis zu setzen.
Vor allem das Personal an den Gates, von denen die Flieger nach New York starten - wobei wir nicht glauben, dass sich Quinn soweit zurechtfinden würde.
In mir steigt erneut die Panik auf. Diesmal nicht wegen meiner blöden Emotionen, sondern weil ich nicht weiß, wo meine Tochter steckt, was sie vor hat und wie es ihr geht. Dunkle Fantasien kommen in mir auf, was ihr alles passiert sein könnte.

Jolene (+ Love)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt