24. Ness' Waffe

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Es ist knapp eine Stunde her, seit mich Chris um ein Treffen bei den Tribünen des Footballfeldes gebeten hat. Ich lag in meinem Bett und habe etwas gelesen, um mich von Ness' Aussagen heute Vormittag abzulenken. Überflüssig zu erwähnen, dass ich dabei wenig Erfolg hatte.

Als mir Chris via Nachricht mitteilte, dass er mich bei den Tribünen treffen möchte, wurden meine schlimmsten Befürchtungen real.

»Hi.« Ich kann meine Aufregung nicht verbergen. Meine Nägel sind bereits abgebissen und für mein Nagelbett schaut es schlecht aus.

Chris scheint auch nicht bester Laune zu sein. Er weicht meinem ohne hin schon verunsicherten Blick aus und macht keine Anstalten mich zur Begrüßung zu umarmen.

Chris will es mit Ness nochmal versuchen und will mir das jetzt sagen... Davon habe ich mich mittlerweile selbst überzeugt. Dass er sich dafür genau den Ort aussucht, an dem wir beschlossen habe, uns eine Chance zu geben, ist beinahe ironisch.

Zur Begrüßung nickt er mir nur nüchtern zu. »Sorry, dass ich das jetzt tun muss«, verkündet er, ohne Kontext zu bieten. Seine Haltung wirk abweisend und es fühlt sich an, als ob eine tiefe Schlucht zwischen uns liegt.

Chris schafft es nicht, mir in die Augen zu sehen, doch mustert er mich, als würde er versuche, mein Erscheinungsbild detailreich in seine Erinnerung aufzunehmen.

Ich will ihn fragen, was los sei, in der Hoffnung, dass ich falschliege. Dazu komme ich nicht, denn Chris überwindet mit einem großen Schritt die Schlucht zwischen uns, schlingt seinen Arm um meine Taille und zieht mich an sich.

Ich kann gerade noch erschrocken meinen Atem anhalten, ehe er mir einen entschlossenen Kuss aufdrückt.

Chris' Nähe wärmt mich, doch fühle ich mich plötzlich trauriger als zuvor. Dies ist unser zweiter Kuss, doch warum fühlt es sich an wie unser letzter? Wie ein Abschiedskuss.

Langsam lösen sich unsere Lippen und Chris' Blick trifft mich mit so viel Trauer und Reuen, dass es mir das Herz bricht.

Was zur Hölle ist hier los? Ich bin hier her gekommen und habe viel erwartet, doch einen Kuss, der sich wie ein Abschied anfühlt, gehört nicht dazu.

»Was ist los?«, frage ich schließlich mit schwacher Stimme. Chris schließt bedauernd die Augen und legt seine Stirn gegen meine.
»Wenn wir doch nur für immer bei den Tribünen bleiben können«, haucht er bedauernd, ehe er sich von mir löst und wieder Abstand zwischen uns bringt.

Ich versuche, zu lesen, was in ihm vorgeht, doch seine Körperhaltung verrät mir nichts. Es wirkt, als wolle er in einer Sekunde zu mir laufen und in einer anderen weit weg von mir.

»Hilf mir, zu verstehen, was hier passiert«, bitte ich Chris inständig. Mittlerweile foltert mich diese Ungewissheit.

Chris nickt und nimmt meine Hand. Behutsam fühlt er meine Haut und verfolgt seine Bewegungen mit den Augen.

»Letztes Jahr bin ich früher von einer Party nachhause gekommen. Ness war bei mir und eigentlich hätte niemand zuhause sein sollen«, stockt er, aber ich gebe ihm Zeit, die passenden Worte zu finden. »Wir haben meinen Vater mit einer andern Frau überrascht...«

Ich verstehe immer noch nicht, worauf er hinaus will. »Das ist furchtbar«, sage ich.

»Das ist nicht alles... Es war nicht irgendeine andere Frau, mit der er meine Mutter betrogen hat«, gesteht Chris. »Es war die Tochter seines Geschäftspartners und besten Freundes, die ich schon mein Leben lang kenne. Mom, Dad und ich waren erst am Wochenende zuvor bei ihrem 18. Geburtstag.«

Erschrocken weiten sich meine Augen. Die Worte bleiben mir im Hals stecken und ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Chris sieht nun endlich auf und in seinen Augen haben sich Tränen gebildet.

»Sie haben uns versichert, dass es einvernehmlich war und sie auf ihn zugekommen ist, aber... Aber es sollte zu denken geben, dass er sich auf eine gerade mal 18-Jährige eingelassen hat.«

Ich nicke gedankenverloren. Chris scheint, dieses Thema sehr zu beschäftigen.

»Wir haben geschworen, dass wir es keiner Menschenseele erzählen. Der beste Freund meines Vaters würde sofort sein ganzes Kapital aus der Firma nehmen und der Ruf meines Vaters wäre zerstört. Das wäre der Untergang meiner Familie.«

Verdammt, das ist der blanke Horror. »Geschweige denn wie es deiner Mutter gehen würde«, sage ich. Ich kenne seine Mom nicht, doch würde ich so etwas niemanden wünschen.

»Sie weiß es. Sie wusste es immer. Jedes Mal!« Chris lacht traurig auf. »Aber so funktioniert meine Familie. Sie tun alles, um die Firma zu beschützen. Auch wenn es bedeutet, dass ihr Sohn...« Chris bricht ab.

Erwartungsvoll greife nun auch ich nach seiner Hand. »Was bedeutet es für ihren Sohn?«, frage ich verzweifelt. Was ist es, dass sie von ihm verlangen?

»Dass er nicht mit dem Mädchen zusammen sein kann, das er mag.« Er schenkt mir ein bedauerndes Lächeln, bevor er den Blick wieder zu Boden richtet.

Ich verstehe seine Worte, doch kann ich nicht begreifen, was er gerade gesagt hat. Was hat das alles zu bedeuten?

Ich muss ihn nicht danach fragen, denn er beginnt wieder zu erzählen. »Ness hat mich in der Hand. Als wir das erste Mal Schluss gemacht haben, hat sie mir versichert, die Sache zu vergessen und es niemanden zu erzählen. Ein paar Monate später, wollte sie es nochmal versuchen, doch ich war schon längst über die Sache hinweg.«

Chris muss nicht weiter erzählen, damit ich verstehe, was Ness mit dieser heiklen Information angestellt hat. »Du willst sagen, dass sie dich erpresst hat?«, frage ich direkt, was Chris mit einem Nicken bestätigt.

»Sie hat gedroht, allen zu erzählen, dass mein Vater 18-Jährige vögelt und es auch bei ihr probiert hat.« Chris entzieht seine Hände aus meinen und reibt sich verzweifelt sein Gesicht. »Meine Eltern verlangen, dass ich, wie sie auch, die Firma beschütze und Ness gebe, was sie verlangt.«

Verständnislos ziehe ich an seinem Arm, damit er mich ansieht. »Das ist der blanke Wahnsinn. Von Ness, aber auch von deinen Eltern. Wie können sie nur zulassen, dass sie dich erpresst?«

Chris zuckt mit den Schultern. »Diese Frage stellen sie sich nicht. Es geht nur darum, was das beste für die Firma ist.«

Wut steigt in mir hoch. Niemals würde ich zulassen, dass jemand meinem Kind so etwas antut. Ich versuche, mich etwas zu beruhigen. »Also die ganze On-Off-Beziehung mit Ness basiert alleine auf ihrer Drohung, deine Familie zu zerstören?«

Chris nickt. »Sie ist ein Kontrollfreak. Nichts ist ihr wichtiger als ihr Ruf und zu der Cheerleader Königin gehört nun mal der Quarterback König. So hat sie es mir am Mittwoch erklärt, als sie mir eröffnet hat, dass wir wieder ein Paar sein sollen.«

Ich will weiter nachfragen, doch stocke ich. Meine schlimmsten Befürchtungen haben sich als falsch herausgestellt, aber die Konsequenzen sind gleich geblieben.

»Also war's das mit uns?«, frage ich vorsichtig, doch weiß ich die Antwort bereits.

Chris schenkt mir ein müdes Lächeln. »Sie wird nicht für immer eine Fake-Beziehung führen wollen. Wenn sie Interesse an einem anderen hat, verlässt sie mich und wir können dort weitermachen, wo wir jetzt aufhören.«

Er kommt wieder näher und zieht mich in eine Umarmung. »Natürlich nur wenn du auf mich warten möchtest.« Er löst sich und sieht mich eindringlich an. In seiner Stimme kann ich einen Hauch von Verzweiflung erkennen.

»Wie lange?«, frage ich mit zittriger Stimme. Ich sollte diese Frage nicht stellen, weil wir sowieso keine Zukunft haben, doch ich ignoriere meinen Kopf.

»Nicht lange. Vielleicht ein oder zwei Monate.« Auf Chris' Gesicht breitet sich ein dankbares Lächeln aus und er zieht mich an sich.

Ich stelle sicher, ihn festzuhalten und mir seinen Geruch genau einzuprägen. Gott, ich werde ihn vermissen, auch wenn ich ihn als Lilly weiterhin sehen werde.

»Danke, dass du es mir erzählt hast«, murmel ich in seinen Pulli. Ich bin dankbar für seine Ehrlichkeit. Dass er mir von Ness' Waffe gegen ihn erzählt hat, zeugt von tiefem Vertrauen. Auch wenn ich mich schlecht fühlen müsste, flattern in meinem Bauch Schmetterlinge.

Me, my Lover and I ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt