Kapitel 17 - Nachts

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"Was machst du hier?", fragte Harry, weil Louis ihn nur ansah, wie ein Reh wohl in den Lauf eines Gewehrs gucken würde, wenn es wüsste, was das ist.

"Äh... Ich... ", stammelte Louis.
"Warte. Ich komme runter.", entschied Harry. Louis trug nicht einmal eine Jacke.

Schnell zog Harry sich Schuhe an, was zu seinem Pyjama etwas seltsam aussah, ging hinunter und öffnete die Seitentür. Der öffentliche Bereich mit dem Pub und dem Herrenzimmer und so weiter war separat verschlossen. Somit kam Harry nicht zur Haupttür.

Louis wusste das natürlich und hielt sich in der Nähe der Nebeneingangstür auf.

"Hey. Du musst doch frieren.", begrüßte Harry ihn und hielt die Tür offen.
"Ja... Naja... Geht schon..."
"Komm mit rein.", entschied Harry einfach resolut.
Toll. In sein Zimmer. Sein privates Zimmer... Wie viele Dienstregeln er damit wohl verletzte?

Chili folgte Louis wie immer auch ohne Leine, ohne irgendwie irritiert zu wirken oder sonst etwas.

"Also?", fragte Harry, sobald sie die knarrende Treppe möglichst leise verlassen hatten und im Zimmer standen.

"Ähm.. mein Opa ist aufgewacht. Dann ist es manchmal besser, wenn ich dann gehe.. aber Will ist bei ihm. Alles gut."
"Äh? Wieso musst du dann gehen?"
"Ich wollte mir ein Glas Wasser holen und dann kam er... Er... Er ist ja dement und... Ich erinnere ihn an seinen Bruder, der vor... Keine Ahnung.. 60 Jahren oder so gestorben ist? Er meint, ich bin ein Todesengel, der ihn holen will und hat Angst und dann... naja ist es besser, wenn ich gehe..."
"Er geht auf dich los, oder?"
"Nur manchmal..."
"Hat er dir was getan?", fragte Harry ernst.
"Nein... Er ist körperlich ja stark eingeschränkt... Ich wollte trainieren gehen, damit ich mehr aussehe wie Will. Von dem denkt er das nie... Aber... Naja..."
"Und dann bist du ohne Jacke raus?"
"Musste schnell gehen...", murmelte Louis beschämt. Harry strich mit seiner Hand über Louis'.

"Du bist eiskalt. Ab unter die Decke.", ordnete er an und Louis folgte sofort. Hatte vielleicht Angst, sonst verhaftet zu werden oder so, so fix, wie von dem nur noch der Kopf heraus lukte.

"Seit wann denkt dein Opa das manchmal?", fragte Harry, sobald Louis sich richtig eingekuschelt hatte und aufgrund der Wärme begann zu entspannen.
Chili kugelte sich am Fußende auf Harrys getragener Hose zusammen.

"Keine Ahnung... Fünf Jahre oder so?"
"Und dann rennst du nachts bei Wind und Wetter durch die Gegend. Seit du 14 bist?", fragte Harry.
"Es ist ja nicht jede Nacht... Und meist wird er nur auf mich aufmerksam, wenn ich gerade herum renne.. ich versuche das einfach zu vermeiden..."
"Moment. Meist? Ansonsten steht er nachts an deinem Bett?"
"Das kam schon vor. Aber Chili passt auf mich auf..."
Harry schossen viele Gedanken durch den Kopf. Als Erstes: Das ist kein sicherer Ort und Louis sollte wo anders sein. Wo er sicher war und schlafen konnte. Und der Großvater würde seines Lebens nicht mehr froh werden, wenn er seinen Enkel verletzen würde. Auch für den Senior war das doch kein Zustand. Es musste ja auch schlimm sein, wenn man des Öfteren glaubte, man würde vom toten Bruder abgeholt werden.

"Hast du meine Karte noch?"
"Ja."
"Hast du meine Nummer im Handy gespeichert?"
"Ja."
"Wenn du wieder nachts fliehen musst, kommst du direkt her und rufst mich an, damit ich dir aufmachen kann, okay?"
"Oh, danke. Das ist sehr freundlich. Aber du hast doch auch Mal Feierabend, oder?"
"Leute schützen kann man rund um die Uhr.", murmelte Harry und betrachtete Louis, dem die Augen zu fielen. Er würde ihn gern direkt aus der Familie heraus holen. Aber Louis war volljährig. Er könnte, theoretisch einfach gehen. Wie auch Jim das vor gehabt hatte? Wenn der Fall abgeschlossen wäre, würde er mit Louis nochmal grundlegend sprechen.

"Louis?"
"Hm?"
"Weißt du, ob Jim noch Gefühle für Yvette hatte?"
"Soweit ich weiß nicht... also wenn ich die zu dritt gesehen habe oder so wirkte das nicht so."
"Hm... Und du weißt echt nicht, wer die Frau an Jims Seite war? Die William gesehen hat?"
"Nein. Weiß ich nicht. Tut mir Leid..."
"Schon gut. Kannst du ja nichts zu... Vielleicht bringen uns die Fotos von den Turteltauben ja doch noch irgendwie weiter...", murmelte Harry.
"Turteltauben? Echte?", fragte Louis.
"Naja. Wir haben Bilder eines zerstörten Geleges und einem toten Vogel."
"Oooh..."
"Oooh?"
"Naja, das ist halt eine Straftat.. ich dachte, das ist übel...", murmelte Louis mit roten Bäckchen und setzte gerade zu einer Entschuldigung an, als Harry ihn unterbrach.

"Straftat?"
"Naja... Turteltauben sind die am stärksten bedrohte Vogelart des Landes. Wenn man ein Gelege findet und es meldet, wird ein Schutzkorridor eingerichtet, damit die Tiere in der Brut nicht gestört werden.", erklärte Louis.
"Echt jetzt?", fragte Harry und sein Kopf ratterte.

"Ja. Es zieht ordentliche Strafen mit sich, wenn man bei der Störung erwischt wird und wenn man dann direkt ein Gelege zerstört..."
"Was meinst du mit Fluchtkorridor?"
"Das ist glaub ich je nach Tier unterschiedlich.. aber ich hab Mal gehört, dass in der Nähe von einer Kröte keine lauten Geräusche gemacht werden durften und Menschen sich in einem bestimmten Umkreis nicht aufhalten durften. Wie das genau bei Turteltauben ist, weiß ich nicht."
"Man hätte auf jeden Fall alle Vogelbeobachter zum Feind...", überlegte Harry.
"Ja. Das auf jeden Fall."

In Harrys Kopf ratterte es. Wenn Jim jemanden beobachtet hatte, der das Gelege zerstört hatte, dann musste es bei der Erpressung nicht um Gefühle gehen, für die die Turteltauben ein Symbolbild waren. Wenn Jim wusste, dass die Tiere besonders geschützt waren, hätte er die Person so oder so an der Angel gehabt. Nicht nur wegen der Strafen, sondern auch wegen dem Gesichtsverlust im Dorf. Hier wohnten doch ein paar Vogelkundler.
Sie sollten einen unabhängigen Experten hinzu ziehen. Dringend.

"Ähm... Ich kann bestimmt auch langsam wieder gehen...", murmelte Louis schläfrig.
"Schon gut. Leg dich einfach hin."
Bisher hatte Louis an die Wand angelehnt mehr oder minder gesessen.

"Und wo willst du schlafen?", fragte Louis und rutschte sofort ganz nah an die Wand.

Okay. Harry durfte das nicht. Das wusste er. Louis gehörte letztlich zum Kreis der Verdächtigen oder? Und wenn nicht, weil er ein Alibi hatte, dann war er zumindest eng mit dem Kreis der Verdächtigen bekannt.

Aber... Louis sollte sicher schlafen können. Und er war hier. Und...
Harry zahlte innerlich noch zwanzig Gründe auf, von denen keiner den Schritt rechtfertigen würde, aber er legte sich nah an die Kante, sodass sie sich nicht berührten, mit ins Bett.

Na, dann Mal gute Nacht.
Bis dann.
Viele Grüße ^⁠_⁠^

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