A Wound To Close [Textsammlung]

I. Zuhause

Als du mich fragtest, bei wem wir unsere Zeit verbringen sollten, suchte ich lange nach einer Antwort, die nicht direkt sagte, was ich selbst (noch) nicht (ganz) verstand. Doch ich fand keine Ausrede, und so war die Nachricht, die ich dir schickte, nur eine Gegenfrage und keine Erklärung: «Bei dir?»
Du hinterfragtest es nicht, weder meine Entscheidung noch auch nur irgendeins der Worte, die ich jemals sagte, und ich war so erleichtert, denn wie hätte ich erklären sollen, was ich mir selbst nicht eingestehen konnte (nicht eingestehen wollte)?

Mittlerweile ist mir klargeworden, was ich damals verdrängt habe (ich kann der Wahrheit nicht mehr entkommen). Und die Wahrheit ist diese: Ich fühle mich sicherer bei dir, in deinen Räumen (im Raum deiner Nähe), als in der Wohnung, die ich mein Zuhause nenne.
Es mag traurig sein, aber es ist wahr, dass die schlechten Erinnerungen mich verfolgen an dem Ort, an dem ich aufwuchs und es immer noch tue. Meistens leben sie in den Schatten, verborgen und unsichtbar; dennoch sind sie immer da und ein Teil von mir ist stets damit beschäftigt, sie nicht rauszulassen.

Vielleicht liegt es daran, dass dein Zuhause so neu ist - noch nicht einmal ein Jahr lebst du darin -, dass es vielleicht noch gar kein richtiges Zuhause für dich ist, weil deine Erinnerungen vielleicht in dem Dorf zurückgeblieben sind, in dem du nun nicht mehr bist (zusammen mit deinem alten Du und all den Schmerzen).
Konntest du es zurücklassen, alles Schlechte, was dir widerfahren ist, an dem Ort, an dem es dir widerfahren ist? Ich weiss es nicht, und ich werde dich nicht fragen (werde dich nicht fragen, wie du es geschafft hast), feige wie ich bin.

Stattdessen werde ich mich der Vorstellung hingeben, dass ich vielleicht, ganz eventuell, dabei helfe, deinen neuen Wohnort zu einem Zuhause zu machen.
Und vielleicht, ganz eventuell, gelingt es mir ja dabei, auch mir ein neues Zuhause zu erschaffen und alles Schlechte hinter mir zu lassen.

- April 2024