A Wound To Close [Textsammlung]

XXIV. Von fliegenden Schweinen und anderen Fabelwesen

"Was ist dein Lieblingsfabelwesen?"

Ein rundes Gesicht mit zwei braunen Zöpfen und einer Zahnlücke sieht mich an. Das ist typisch Kinder, nur sie kommen auf solche Fragen. Nicht, als ob ich etwas dagegen hätte. Spannender als die Erwachsenengespräche über den nervigen Mitarbeiter und zu hohe Miete ist es allemal.

"Hm, da muss ich kurz überlegen", sage ich. "Einhörner sind cool, findest du nicht auch?"

Das Mädchen verzieht unzufrieden das Gesicht.
"Einhörner sind langweilig", mault sie. "Jeder mag Einhörner. Aber alles, was sie können, sind glitzern und dich in den Po pieksen."

Ich muss lachen.
"Ich glaube nicht, dass ich Leute in den Po pieksen würde, wenn ich ein Einhorn wäre."

"Das weisst du ja gar nicht", antwortet sie. "Du bist kein Einhorn."

"Na, aber was, wenn doch? Vielleicht wurde ich nur in einen Menschen verwandelt, weil ich eine böse Tat begangen habe."

Das Mädchen verdreht die Augen.
"Einhörner gibt es aber nicht. Wenn schon, würde es auch Drachen geben, und das wäre cool."

"Das stimmt."
Ich überlege kurz.
"Ich glaube, mein Lieblingsfabelwesen ist ein Phönix. Er kann einen heilen und steht immer wieder aus seiner eigenen Asche auf. Wenn Fabelwesen real wären, wäre ich gerne ein Phönix. Ich stelle mir das schön vor, sozusagen immer weiterzumachen, auch, wenn alles zu Staub zerfallen ist."

Dieses Mal wirkt das Mädchen zufrieden. Sie nickt und sagt, "das wäre auch cool. Mein Lieblingsfabelwesen ist ein fliegendes Schwein."

Dann hüpft sie davon, ohne sich noch einmal umzudrehen. Ich schaue ihr nach und denke für den Rest das Tages darüber nach, wie viel spannender mein Leben wäre, wenn Fabelwesen real wären.

- August 2024