- Prolog -

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Frankie liebte ihre Granny über alles. Nicht nur, weil sie die weltbesten Pfannkuchen machte und coole Zaubertricks kannte, sondern auch, weil sie die tollsten Geschichten erzählte und die lustigsten Weihnachtssocken strickte.

Oh, und weil sie immer ein rosa Stofftaschentuch mit Elefanten zur Hand hatte, um Frankies Tränen zu trocknen.

„Was ist denn los, mein kleiner Sonnenschein?" Frankies Granny richtete sich in ihrem alten Schaukelstuhl auf, als ihre Enkelin am frühen Abend auf die Veranda tapste. Glasperlen schimmerten in ihren blauen Kinderaugen und kullerten wenige Sekunden später über ihre Wangen. Wie Murmeln, mit denen Frankie so gerne spielte.

„Komm her!" Ihre Granny breitete die Arme aus.

Sofort stolperte Frankie zu dem Schaukelstuhl hinüber und kletterte auf den Schoß ihrer Granny. Ihr tränenüberströmtes Gesicht versteckte sie in dem grünen T-Shirt mit den vielen, bunten Kreisen und Dreiecken.

„Verrätst du mir, warum du weinst?" Frankies Granny strich ihr behutsam über den Kopf. So, wie sie es auch immer bei Kitty Poppins, ihrer alten, griesgrämigen Katze, tat. „Du weißt doch, wie sehr ich dein Lächeln liebe, kleiner Sonnenschein."

Frankie schniefte leise. „Ich ... Ich ..." Ihre Stimme wurde von dem Wind davongetragen. Weit weg. Bis zu den Wolken am Himmelszelt, die so ähnlich wie Schafe aussahen. Oder zumindest wie winzige Lämmer.

„Ganz ruhig." Frankies Granny kramte das rosa Stofftaschentuch mit den Elefanten hervor und tupfte ihrer Enkelin vorsichtig die Tränen von den Wangen. „Atme einmal tief durch, ja? Und dann versuchst du nochmal, mir zu erzählen, was passiert ist, okay?"

Frankie nickte. Sie schloss ihre Augen und konzentrierte sich auf das Rauschen des Windes. Sie konnte hören, wie sich die Baumwipfel von rechts nach links bewegten und die Blumen mit ihren hübschen Blütenkleidern wackelten.

‚Eins ... Vier ... Neun ...', zählte sie in Gedanken die drei Zahlen auf, die sie bereits im Kindergarten gelernt hatte. Danach öffnete sie wieder ihre Augen und berichtete ihrer Granny mit bebender Stimme: „Ich habe ... Mister Krakenstein ... Er ist weg ..." Frankie wischte sich über die Wangen, denn dort tanzten neue Tränen miteinander um die Wette. Als würde es ihnen Spaß machen, die arme Frankie zu ärgern.

„Du hast deinen Mister Krakenstein verloren?"

Frankies Unterlippe zitterte, während sie nickte. Die blaue Plüschkrake war ihr Lieblingskuscheltier gewesen, doch sie hatte es beim Spazierengehen im Wald verloren. Weder ihre Mommy noch ihr Daddy hatten Mister Krakenstein wiedergefunden. Und das, obwohl sie mindestens eine ganze Stunde durch den Wald geirrt waren.

„Sei nicht traurig, mein kleiner Sonnenschein", murmelte Frankies Granny nun aufmunternd. Sie drückte die Hand ihrer Enkelin und schenkte ihr ein zuversichtliches Lächeln. „Mister Krakenstein ist jetzt auf der Insel der verlorenen Schätze."

„W-Was?!" Frankie spürte, wie ihr Herz immer schneller schlug. Die Tränen versiegten und machten Platz für einen Funken Neugierde.

„Sag bloß, du hast noch nie von dieser Insel gehört?!" Ihre Granny klang entsetzt. Wie letzte Woche an ihrem 70. Geburtstag, als Frankie ihr extra eine besonders schöne Nacktschnecke auf die Geburtstagstorte gesetzt hatte. Als Überraschung. „Soll ich dir verraten, was die Insel der verlorenen Schätze ist?"

Frankies Augen nahmen die Größe von Untertassen an. Sie rutschte nervös auf dem Schoß ihrer Granny hin und her und pulte den roten Nagellack von ihren Fingern. Eine Angewohnheit, die sie schon im Alter von zwei Jahren entwickelt hatte.

„Ja!", quiekte Frankie ganz aufgeregt. „Wo ist die Insel?"

Ihre Granny lächelte. „Niemand weiß, wo die Insel der verlorenen Schätze ist", erklärte sie. „Ich weiß nur, dass dort alle Sachen hinkommen, die verloren gehen."

Frankie runzelte ihre Stirn und bemühte sich, die Worte ihrer Granny zu verarbeiten. Mit fünf Jahren war es gar nicht mal so einfach, die Sprache der Erwachsenen zu verstehen. „Ist Mister Krakenstein auch auf der Insel?"

„Ganz genau! Er-"

„Gibt es da Wasser?", unterbrach Frankie ihre Granny. „Und einen Strand? Und Freunde für Mister Krakenstein?"

„Natürlich!", bestätigte ihre Granny mit einem Kopfnicken. „Mister Krakenstein geht es gut. Auf der Insel der verlorenen Schätze hat er alles, was er braucht, um glücklich zu sein." Ein letztes Mal wischte sie ihrer Enkelin die getrockneten Tränenspuren von den Wangen. „Jetzt ist wieder alles in Ordnung, kleiner Sonnenschein, oder?"

Frankie nickte aufgeregt, sodass ihre geflochtenen Zöpfe wild durch die Luft wirbelten. Sie war heilfroh, dass es ihrem Kuscheltier gutging und dass es an einem schönen Ort gelandet war.

Ob sie ihren Mister Krakenstein bald auf der Insel der verlorenen Schätze besuchen konnte? Wenn sie fest genug daran glaubte, würde ihr Wunsch in Erfüllung gehen! Da war sich Frankie sicher.

Die Insel der verlorenen SchätzeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt