Vor der Glaskuppel warten Marlo und Mister Krakenstein auf mich. Beide sehen angespannt und besorgt aus.
Von Licht-Luigi, Pack-Paul und Bade-Berta fehlt jede Spur.
Es fällt mir unheimlich schwer, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Ich spüre Marlos und Mister Krakensteins Blicke wie feine Nadelstiche auf meiner Haut, schaffe es allerdings nicht, sie zu erwidern.
Mein schlechtes Gewissen bringt mich beinahe um.
Wie zum Teufel soll ich den beiden erklären, dass mindestens dreißig verlorene Schätze ausgelöscht werden müssen, um diese Insel am Leben zu erhalten? Ich wünschte, jemand anderes könnte mir diese Bürde abnehmen, aber leider ist das unmöglich.
„Hey Frankie ..." Mister Krakensteins Stimme ist kaum lauter als ein Wispern. Er legt seine blauen Tentakel um meinen Oberkörper und zieht mich vorsichtig an seine Brust.
Erst kämpfe ich gegen den Drang meiner Tränen an, doch als der Oktopus liebevoll über meinen Rücken streichelt, brechen jegliche Staudämme und die Glasperlen strömen unaufhaltsam über meine Wangen.
„Ganz ruhig", versucht Mister Krakenstein auf mich einzureden. „Alles ist gut."
‚Nein, nichts ist gut!', brülle ich ihm in meinen Gedanken entgegen. Nur weil ich so unachtsam mit meinen Sachen umgegangen bin, müssen jetzt unschuldige Schätze sterben.
Wenn ich könnte, würde ich die Vergangenheit sofort rückgängig machen. Und zwar ohne zu zögern.
Mehrere Minuten verstreichen, in denen ich mein Gesicht in Mister Krakensteins Plüschkörper drücke und eine Träne nach der anderen vergieße. Irgendwann sind die Glasperlen zum Glück alle aufgebraucht, sodass ich mich vorsichtig von dem Oktopus löse und ihn aus verweinten Augen anschaue.
„Es ... Es ist etwas ganz Furchtbares passiert!", presse ich zwischen kläglichen Schluchzern hervor.
Statt mir eine Nachfrage zu stellen oder anderweitig eine Antwort zu geben, schweigt die Krake. Fast schon schuldbewusst lässt sie ihren Kopf hängen.
„Mister K. und ich haben alles gehört, Frankie", lenkt plötzlich Marlo meine Aufmerksamkeit auf sich. Er steht ein paar Meter neben mir und versucht sich daran, mir ein tröstendes Lächeln zu schenken. Allerdings ohne Erfolg. „Wir wissen Bescheid."
Wie bitte?
Marlos Worte fühlen sich wie ein Fausthieb in die Magengrube an. Nur schmerzhafter und mitten ins Herz.
„Ihr ... Ihr ...", stammele ich verzweifelt. „Ihr wisst also, was für ein schrecklicher Mensch ich bin?" Im Einklang mit meiner Frage kullern neue, brennende Tränen über mein Gesicht.
Sofort macht Marlo einen großen Schritt auf mich zu und legt zärtlich seine Hände an meine Wangen. Mit seinen Fingerspitzen fängt er die vielen Tränen auf. „Hör auf, dir so einen Schwachsinn einzureden, Frankie!", ermahnt er mich. „Du bist ein ganz besonderer Mensch, okay?! Vielleicht etwas verpeilt, tollpatschig und schusselig, aber genauso kennen wir dich."
Es fällt mir schwer, Marlos Worten zu glauben. Natürlich bin ich ihm dankbar, dass er mich aufmuntern möchte, doch das fühlt sich gerade falsch an.
„Genau!", pflichtet ihm Mister Krakenstein bei. „Wir lieben dich so, wie du bist, Frankie!"
„Ach ja?" Ich hebe misstrauisch meine Augenbrauen. „Und wo sind dann Licht-Luigi, Pack-Paul und Bade-Berta?"
Das Schweigen, das sich nun zwischen uns ausbreitet, ist Antwort genug. Das Trio hat die Flucht ergriffen und versteckt sich wahrscheinlich irgendwo im Dschungel. Aus Angst, von mir ausgelöscht zu werden.
Marlo ist der Erste, der nach einer Weile die Stille durchbricht. „Sie wollten sich mal kurz die Füße vertreten", lügt er. „Nicht wahr, Mister K.?"
Wie ein programmierter Roboter nickt der Oktopus.
„Mach dir keine Sorgen, Franny." Marlo greift nach meiner Hand und drückt sie einmal aufmunternd. „Zusammen bekommen wir das schon hin, okay?"
Auch wenn ich das bezweifele, nicke ich.
Ich möchte Marlo und Mister Krakenstein gerade fragen, wie es jetzt weitergehen soll, da hallt plötzlich eine fremde Jungenstimme durch die Luft. „Huhu!", ruft jemand übermütig. „Abfahrt ist in zwei Minuten. Also beeilt euch! Hopp, hopp!"
Überrascht lasse ich meine Augen über die Lichtung schweifen, doch alles sieht unverändert aus. Erst als mein Blick zu dem kleinen Fluss hinüberspringt, entdecke ich ein knallrotes Schlauchboot, das gutgelaunt grinst und mir zuwinkt.
„Kommt her!", brüllt es in unsere Richtung. „Ich beiße schon nicht!"
Verunsichert schaue ich zu Marlo hinüber, der das Boot nun ebenfalls gefunden hat. Tiefe Furchen der Neugierde graben sich in seine Stirn, als er wissen möchte: „Wer bist du?"
„Oh, ich heiße Platsch", stellt sich das Boot vor. „Nerina hat mich geschickt, um euch zurück zum Strand zu bringen."
„Platsch?", wiederholen Marlo, Mister Krakenstein und ich wie aus einem Munde.
„Ja", bestätigt das Schlauchboot. „Ziemlich kreativ, oder?"
Diese Frage lassen wir lieber unbeantwortet. Stattdessen gehen wir zum Flussufer und schauen uns Platsch aus der Nähe an.
„Bist du dir sicher, dass wir nicht zu schwer für dich sind?", frage ich das Boot verunsichert.
„Ach Quatsch!", behauptet Platsch mit einer wegwerfenden Geste. „Ich bin ein magisches Schlauchboot. Es kann also nichts passieren."
Kurz zögern wir noch, doch dann macht Mister Krakenstein den Anfang und betritt das Boot. Marlo und ich folgen ihm.
Gemeinsam kauern wir uns auf die Bank und halten uns an dem Gummirand fest. Na ja, zumindest Marlo und Mister Krakenstein halten sich fest, denn ich sitze in der Mitte und werde beinahe von den beiden Jungs zerquetscht.
„Alle bereit?", erkundigt sich Platsch bei uns. „Kann ich losfahren?"
„Ai ai, Captain!", erwidert Marlo salutierend. „Volle Kraft voraus!"
Das lässt sich Platsch nicht zweimal sagen. So schnell wie der Blitz saust er über das Wasser und weicht dabei Felsen und umgekippten Palmen aus. Der Dschungel neben uns verschwimmt währenddessen zu einem Farbbrei aus unterschiedlichen Grün- und Brauntönen.
Immer wieder spritzen Wassertropfen in das Boot und kühlen meine erhitzte Haut ab. Der Wind zerrt an meinem Körper und fegt durch meinen Geist. Für einen Moment vergesse ich all meine Sorgen und Probleme und genieße es einfach nur, mich schwerelos zu fühlen.
Auf der gesamten Fahrt wechseln Marlo, Mister Krakenstein und ich kein einziges Wort miteinander. Nicht, weil es nichts zu sagen gibt, sondern weil die Windböen zu laut in unseren Ohren rauschen.
Nach etwa einer halben Stunde mündet der Fluss dann plötzlich im Ozean und nach drei weiteren Minuten haben wir tatsächlich den Strand erreicht, an dem die vielen, bunten Gegenstände im Sand liegen und schlafen.
„Wow, das ging schnell", teilt Mister Krakenstein meine Gedanken. Er hievt sich mit seinen acht Tentakeln von der Sitzbank hoch, klettert umständlich aus dem Boot und hilft mir danach beim Aussteigen.
„Danke, Platsch!", flöten wir im Chor.
Das Schlauchboot grinst zufrieden, ehe es seinen Blick auf mich richtet. „Viel Glück, Frankie", lächelt mich Platsch aufmunternd an. „Ich hoffe, du triffst die richtige Entscheidung."
Oh ja, das hoffe ich auch. Nur leider habe ich aktuell keinen blassen Schimmer, wie diese Entscheidung aussehen soll.
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Die Insel der verlorenen Schätze
FantasySeit Frankie ein kleines Mädchen ist, liebt sie die Legende von der Insel der verlorenen Schätze. Laut Erzählungen landen dort all die Dinge, die im Laufe der Zeit verloren gegangen sind. Eines Tages wacht Frankie auf genau dieser Insel auf. Unterkü...