5 - Ein realer Fantasie-Freund?!

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Vor mir steht ein junger Mann, der kaum älter als Anfang zwanzig sein kann. Er hat kaffeebraune Augen, die so tief und unergründlich wie der Ozean sind, und schwarze Locken, die sich wirr auf seinem Kopf kräuseln. Der Drei-Tage-Bart umspielt nicht nur seine vollen Lippen, sondern wirft auch Schatten auf seine sonnengebräunte Haut.

Der Mann ist ungefähr einen halben Kopf größer als ich und sieht sehr athletisch aus. Er trägt ein schlichtes, weißes Shirt und eine knallgrüne Badehose, die mit Flamingos bedruckt ist.

„Wer ... Wer bist du?", frage ich ihn perplex.

Abgesehen von mir selbst ist der Mann der erste und einzige Mensch, dem ich auf dieser merkwürdigen Insel begegnet bin. Ob er vielleicht weiß, wie ich hierhergekommen bin und wie ich wieder von diesem Ort verschwinden kann? Ich hoffe es.

Statt mir allerdings eine Antwort auf meine Frage zu geben, kehrt mir der Mann den Rücken zu und schwingt sich stattdessen auf den Bartresen. Genau zwischen einen Mixer und einen Messbecher, der mit Eiswürfeln gefüllt ist. Mit laut erhobener Stimme ruft er: „Wagt es ja nicht, meine Bar zu betreten!"

Was?

Ich drehe mich um und schaue in Richtung Strand zurück. Tatsächlich haben sich dort unzählig viele Gegenstände versammelt, die noch immer mit Sandbällen bewaffnet sind.

„Nur einen Schritt näher und meine Bar hat nie wieder für euch geöffnet!", warnt der Mann.

Ich habe zwar keinen blassen Schimmer, welche Rolle er in diesem ganzen Insel-Drama einnimmt, doch die Gegenstände scheinen Respekt vor ihm zu haben, denn sie treten langsam den Rückzug an.

Gott sei Dank!

Ich stoße ein erleichtertes Seufzen aus und schließe für ein paar Sekunden die Augen. Auch wenn ich mich nicht an mein vorheriges Leben erinnern kann, bezweifele ich, jemals so etwas Verrücktes erlebt zu haben, wie jetzt gerade.

„Möchtest du etwas trinken, Mister K.?", reißt mich die Stimme des fremden Mannes in die Realität zurück. „Vielleicht ein Wasser? Du siehst ziemlich mitgenommen aus."

„Ach was!" Mister Krakenstein macht eine wegwerfende Tentakelbewegung. „Alles halb so schlimm."

Automatisch meldet sich mein schlechtes Gewissen zu Wort. Nur meinetwegen wurde er mit Sandbällen beworfen und leidet nun unter Schmerzen.

Wie es scheint, bin ich hier unerwünscht.

Nicht mal der Mann mit den kaffeebraunen Augen schenkt mir seine Aufmerksamkeit. Erst lässt er meine Frage nach seinem Namen unbeantwortet und jetzt bietet er nur der Krake etwas zu trinken an. Noch deutlicher könnte er gar nicht zeigen, was er von mir hält.

Nämlich absolut gar nichts!

Während sich der Mann an den Bartresen zurückzieht, möchte ich neugierig von Mister Krakenstein wissen: „Wer ist das?" Dabei deute ich in Richtung Bar.

Wahrscheinlich hört es sich total absurd an, aber der Mann kommt mir bekannt vor. Als hätte ich in der Vergangenheit unzählige Erinnerungen mit ihm geteilt.

„Das ist Marlo", verrät mir Mister Krakenstein endlich seinen Namen. „Er ist genauso alt wie du. Also fünf plus vierzehn Jahre."

Ich nicke. Dann frage ich den Oktopus schüchtern, fast schon ängstlich: „Kann es sein, dass er mich nicht mag?" Ein humorloses Lachen entwischt meinen Lippen. „Oder sollte ich eher fragen: Kann es sein, dass mich hier überhaupt niemand mag?" Ohne es verhindern zu können, löst sich eine Träne aus meinem rechten Augenwinkel und kullert über meine Wange.

Ich fühle mich wie eine Aussätzige. Wie jemand Unerwünschtes.

„Sag so etwas nicht, Frankie!" Mister Krakenstein legt seine Tentakel um mich und drückt mich vorsichtig an seinen blauen Plüschkörper. Sofort rücke ich näher an ihn heran und vergrabe mein Gesicht in dem weichen Stoff. „Ich mag dich! Das darfst du nicht vergessen!"

Die Insel der verlorenen SchätzeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt