Am nächsten Morgen wache ich in den flauschigen Tentakeln von Mister Krakenstein auf. Zwar hätte ich die Nacht auch gerne gemeinsam mit Marlo verbracht, aber das wäre dem Oktopus gegenüber nicht fair gewesen.
„Na? Gut geschlafen?", erkundige ich mich bei dem XXL-Plüschtier, das gerade herzhaft gähnt.
„Oh ja", antwortet mir Mister Krakenstein zufrieden. „Wie ein Baby!"
Automatisch muss ich lachen. Ich möchte ihm nun erzählen, dass er in meinem Traum tatsächlich ein Baby war und nur sechs Tentakel hatte, da ertönt plötzlich ein ersticktes Keuchen neben mir. Sofort drehe ich mich um und erkenne das Megafon, das Mister Krakenstein am ersten Tag benutzt hat, um mich den anderen Gegenständen vorzustellen.
Mist, wie war nochmal sein Name?
Luis? Oder Lorenz?
„Hey, Larry-Laut", beantwortet die Krake unbewusst meine Frage. „Was gibt's? Du siehst so gestresst aus."
Tatsächlich perlen vereinzelte Schweißtropfen über seinen Megafonkörper. Larry-Laut muss zweimal gierig nach Luft schnappen, bis er röchelnd hervorbringt: „Wir sollen ... Wir sollen uns alle versammeln."
Nicht nur meine Augenbrauen wandern in die Höhe. Auch Mister Krakenstein sieht verwundert aus.
„Und warum?"
Larry-Laut stützt sich auf seinen Oberschenkeln ab. Wie es scheint, sind seine konditionellen Fähigkeiten genauso miserabel wie meine.
Mehrere Sekunden verstreichen, in denen er versucht, seine Atmung zu regulieren. Irgendwann gelingt es ihm, sodass er antwortet: „Marlo hat uns etwas zu verkünden."
Direkt tauschen Mister Krakenstein und ich einen verwirrten Blick miteinander aus. Was sollte Marlo denn Wichtiges verkünden wollen? Dass ich ein Unmensch bin und meinetwegen dreißig verlorene Schätze ausgelöscht werden müssen? Um ehrlich zu sein bezweifele ich das.
„Kommt ihr jetzt endlich?" Larry-Laut zupft ungeduldig an dem Saum meines Kleides. „Alle warten nur noch auf euch."
„A-Alle?" Ich spüre, wie mir meine Gesichtszüge entgleisen und ein Fünkchen Panik in meinem Inneren aufkeimt.
„Keine Sorge", murmelt Larry-Laut in einem beiläufigen Plauderton, „Marlo hat ein Sandball-Verbot verhangen."
Na toll ... Das schützt mich zwar vor blauen Flecken, aber nicht vor vernichtenden Mörder-Blicken.
Augen zu und durch, richtig?
Gemeinsam folgen Mister Krakenstein und ich dem Megafon durch den lauwarmen Sand. Die Sonne steht schon hoch oben am Himmelszelt und lässt ihre goldenen Strahlen über die Erde tanzen. Es riecht angenehm nach Wassermelone, über meinem Kopf ziehen die Möwen kreischend ihre Kreise und ein sanfter Windhauch umspielt meinen Körper.
Es dauert einen kurzen Augenblick, bis ich realisiere, dass uns Larry-Laut zu Marlos Schankstelle führt. Vor der Bar haben sich bereits tausende Gegenstände versammelt, die aufgeregt durcheinander plappern. Scheinbar weiß niemand, was uns Marlo zu verkünden hat.
Apropos Marlo ...
Er klettert gerade auf den Bartresen und verschafft sich einen Überblick von allen Anwesenden. Als seine kaffeebraunen Augen mein Gesicht streifen, breitet sich ein glückliches Lächeln auf seinen Lippen aus und ein Funkeln entzündet sich in seinen Iriden.
Freut er sich etwa, mich zu sehen?
Schüchtern lächele ich zurück. Nicht sicher, was mich jetzt erwartet.
„Mach dir keinen Kopf, Frankie", flüstert mir Mister Krakenstein aufmunternd von der Seite zu. „Marlo hat bestimmt einen Plan, wie wir die Insel retten können."
Bei seinen Worten macht sich ein kleiner Hoffnungsschimmer in meinem Herzen breit.
Zum Glück werden meine Nerven nicht mehr allzu lange auf die Folter gespannt, denn nur wenige Sekunden später klettert Larry-Laut zu Marlo auf den Bartresen und wird seinen Funktionen als Megafon gerecht.
„Guten Morgen!", begrüßt uns Marlo gutgelaunt.
Da ich froh bin, in der letzten Reihe zu stehen und noch nicht von den anderen Gegenständen entdeckt worden zu sein, bleibe ich stumm. Aufmerksamkeit ist gerade das Letzte, was ich brauche.
„Wie die meisten von euch wissen, haben Mister K., Frankie und ich in den letzten beiden Tagen eine kleine Erkundungstour über die Insel gemacht."
Na vielen Dank auch, Marlo. So viel zum Thema keine Aufmerksamkeit ...
„Wir haben viel gesehen und uns viel miteinander unterhalten", fährt Marlo fort. „Dabei sind wir zu dem Entschluss gekommen, dass es an der Zeit ist, etwas zu verändern."
Ach ja? Davon wüsste ich aber.
„Schaut euch doch mal um!" Marlo wird lauter. Und unzufriedener. „Unsere Insel versinkt im Chaos. Wir haben hier keine Strukturen und genau das ist der Fehler!"
Die ersten Gegenstände tuscheln leise miteinander. Leider kann ich aber nicht verstehen, ob sie Marlo zustimmen oder widersprechen.
„In den vergangenen Nächten haben Frankie und ich Baupläne für unsere Insel entworfen."
„Was?!", entflieht es mir überrascht. Warum zum Teufel lügt er? Und von was für welchen Bauplänen spricht er?
Mister Krakenstein kennt die Antwort. „Er versucht, dich in ein besseres Licht zu rücken. Damit die anderen Schätze nicht mehr wütend auf dich sind", erklärt er mir leise.
Wieder mal bin ich sprachlos, denn so einen tollen Menschen wie Marlo habe ich nicht verdient. Nicht, nachdem ich ihn in der Vergangenheit einfach vergessen und ersetzt habe.
„Wir wollen kleine Häuser und Betten für die Nächte bauen", schiebt sich Marlos Stimme über meine Gedanken. „Es soll Fitnessgeräte, Ruheoasen und eine lange Tafel für Feste geben. Außerdem möchten wir eine Art Schutzbunker errichten, falls uns mal wieder Stürme oder Unwetter überraschen."
Das Gemurmel um mich herum wird immer lauter. Glücklicherweise nehme ich aber ausschließlich positive Resonanzen wahr.
„Oh, und wir müssen endlich mal den ganzen Müll entsorgen, der sich hier jahrelang angesammelt hat!" Marlo deutet in Richtung Strand. Ich folge seinem Finger und erkenne einen riesigen Schrotthaufen, der mindestens so hoch wie eine Palme ist.
„Ich habe die Baupläne und die ganzen Materialien am Strand für euch ausgelegt. In spätestens zwei Tagen muss alles fertig sein, also ran an die Arbeit!" Mit diesen Worten beendet Marlo seine Rede.
Für ein paar Sekunden hallt tosender Applaus durch die Luft, ehe die vielen Gegenstände durcheinanderwuseln und zum Strand aufbrechen. Sicherheitshalber verstecke ich mich hinter Mister Krakenstein, um nicht doch noch mit Blicken oder Sandbällen ermordet zu werden.
Nachdem alle Gegenstände verschwunden sind, kämpfe ich mich zur Bar und falle Marlo stürmisch um den Hals.
„Woah!", stößt er ein überraschtes Keuchen aus. „Nicht so hektisch, Franny!" Er legt seine Arme um mich und drückt mich näher an seine Brust. Ich kann seinen gleichmäßigen Herzschlag an meiner Wange fühlen und lächele.
Marlo ist viel mehr als nur mein damaliger Fantasie-Freund. Er schafft es, mir aus der Seele zu sprechen und mein Herz zu berühren. Und auch wenn ich nicht weiß, was für Menschen ich in der echten Welt kennengelernt habe, bezweifele ich, dass dort jemand so Besonderes wie Marlo auf mich wartet.
Er ist einzigartig.
Und perfekt.
Perfekt für mich.
„Danke!" Ich kann nicht verhindern, dass sich zwei Tränen aus meinem rechten Augenwinkel lösen. „Du bist der Hammer, Marlo!"
Grinsend schafft er Abstand zwischen unseren Körpern, um mir zärtlich die Glasperlen von den Wangen zu wischen. „Und du der ganze Werkzeugkasten, Franny", erwidert er zwinkernd. Dann klatscht er in die Hände und lacht: „Jetzt aber hopp, hopp zum Strand! Wir haben einiges zu tun!"
Mission Insel retten kann beginnen.
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Die Insel der verlorenen Schätze
FantasySeit Frankie ein kleines Mädchen ist, liebt sie die Legende von der Insel der verlorenen Schätze. Laut Erzählungen landen dort all die Dinge, die im Laufe der Zeit verloren gegangen sind. Eines Tages wacht Frankie auf genau dieser Insel auf. Unterkü...