Kapitel 6

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„Ist doch besser, als die ganze Zeit zu stehen." Gerührt von seiner Handlung lächle ich kurz in mich hinein. Doch dann rufe ich mir ins Gedächtnis, wie kurz ich ihn kenne und dass ich keine allzu große emotionale Bindung zu ihm aufbauen sollte. Meine inneren Schutzmauern sind binnen Sekunden wieder errichtet und helfen mir dabei, die Wärme, die von seinen Beinen durch meine Hose dringt, zu ignorieren. Meine Gedanken wandern wieder zu dem Buch, das in der Hand meines lebenden Sitzes liegt. Dazu verpflichtet, die Heirat mit demjenigen Mann einzugehen, dem sie seit ihrer Geburt versprochen war. Lazlo MacBlair. Würde ich wirklich gezwungen werden, diesen Mann zu heiraten? Und selbst wenn – wann soll das bitte passieren. Immerhin bin ich seit circa einem Monat siebzehn und bis jetzt hat mir meine Mutter keinen Ehemann serviert. Und überhaupt. Wir haben das Jahr 2015. Es ist vollkommen unmöglich, dass in dem Buch von mir die Rede ist. Eine sanfte, aber bestimmte Bewegung von Kyle lässt mich auf den Boden der Tatsachen zurückkehren. „Wir müssen aussteigen." Seine Stimme ist leise und sein Atem streift leicht mein linkes Ohr. Mit einer ruckartigen Bewegung stehe ich von seinem Schoß auf und verliere natürlich sofort das Gleichgewicht. Gerade noch rechtzeitig kann ich mich an einer Stange zu meiner rechten festhalten, als der Zug bremst und ich beinahe einfach nach links gekippt wäre. Jetzt fühle ich mich wie der schiefe Turm von Pisa höchst persönlich, so schief hänge ich an der Stange. Das prusten hinter mir verrät, dass Kyle sich zusammenreißen muss, um nicht zu lachen. Naja, man kann es ihm nicht verdenken. Ich bemühe mich, mich möglichst würdevoll wieder aufzurichten, wobei ich mit einer älteren Frau zusammenstoße, die sofort anfängt, ihrem Ärger darüber lautstark Luft zu machen. „Was fällt dir frechen Göre eigentlich ein, eine alte und gebrechliche Frau wie mich von der Seite anzurempeln? Also wirklich, die Jungend von heute!" Und natürlich findet sie sofort Unterstützer in der uns umgebenden Menschenmenge, die ebenfalls beginnen, sich über mein unglaublich rüdes Verhalten aufzuregen. Vollkommen überfordert mit der Situation nehme ich die Beine in die Hand und ergreife die Flucht. Ich stürme aus der sich gerade öffnenden Tür und bringe mich auf dem Bahnsteig in Sicherheit. Ich laufe gerade in Richtung Treppe, als mit bewusst wird, dass ich auf Kyle warten muss, da er das Buch ja immer noch hat. Genervt drehe ich mich um und schlendere zur Bahn zurück, aus dessen Tür gerade die gesucht Person tritt. Als er mich entdeckt hat, setzt er ein freches Grinsen auf und kommt langsamen Schrittes auf mich zu. Ein weiterer flüchtiger Blick auf die Uhr zeigt mir, dass wir gleich bereits halb sieben haben, was mich zunehmend unter Druck setzt. Doch äußerlich lasse ich mir diese Unruhe nicht anmerken und warte geduldig an Ort und stelle, bis Kyle mich erreicht hat. „Auch schon da?" Geschickt nehme ich ihm das Buch ab und marschiere schnurstracks zu den Treppen zurück, die mich wieder ans Tageslicht bringen sollen. Doch als ich oben ankomme ist es bereits dunkel. „Ich hab doch gesagt, dass es um diese Jahreszeit schnell dunkel wird." Seine Stimme, die plötzlich ganz nah neben meinem rechten Ohr erklingt, entlockt mir einen spitzen Schrei. „Kyle!" Verärgert schlage ich ihm mit der flachen Hand auf die Brust. „Ich muss jetzt echt nach Hause. Also, war schön, dich kennengelernt zu haben." Ich sehe noch, wie er skeptisch die Augenbrauen zusammenzieht, bevor ich mich umdrehe und davon stapfe. Doch ich habe den Plan ohne seinen Dickkopf gemacht. Denn nach drei Schritten ist er neben mir und hält mich mit dem Arm zurück. „Krieg ich wenigstens deine Handynummer?" Nach kurzem Überlegen und einem Blick in seine bittenden Augen beschließe ich, dass es nur von Vorteil ist, wenn ich sie ihm gebe. Er ist der einzige, mit dem ich mich über den jüngsten Vorfall austauschen kann und außerdem muss er das Buch zurückbringen. Denn rechtlich gesehen hat er es ja auch ausgeliehen. „Okay."


Zu Hause angekommen ziehe ich meine Schuhe und Jacke aus und beschließe, erst einmal duschen zu gehen, bevor ich mich auf die Suche nach einem Atlas für mein Referat mache. Ich steige die Treppe zu meinem Zimmer hinauf und werfe meine Schultasche in eine Ecke. Das Buch lege ich weniger grob an eine freie Stelle auf meinem Schreibtisch. Zum ersten Mal fällt mir der Titel des Buches auf. Die Legenden von Yorkshire. Legenden. Meine Doppelgängerin zählt also als eine Art Legende. Der Gedanke gefällt mir. Mit einem Lächeln im Gesicht gehe ich zu meinem Kleiderschrank und öffne eine der beiden großen Türen, um mir eine Jogginghose und eine großes T-Shirt rauszusuchen. Ich trage zu Hause gern übergroße Sachen, die sind gemütlicher. Mit meinen Klamotten auf dem Arm gehe ich in mein Bad. Unter der Dusche quieke ich kurz auf, da das Wasser zuerst kalt aus der Leitung kommt, aber das darauffolgende warme ist dafür umso angenehmer. Beim einschäumen meiner Haare wandern meine Gedanken wieder zu dem Buch auf meinem Schreibtisch. Roselin. Könnte das mein echter Name sein? Nein, unmöglich. Ich heiße Rose. Nur Rose. Meine Mum hat diesen Namen für mich gewählt, weil er zu mir passt und weil sie ihn schön findet. Es ist vollkommen unmöglich, dass ich irgendwie anders heiße. Und doch lässt mich die Ähnlichkeit zwischen dem Portrait und meinem Spiegelbild, das mich jetzt ausdruckslos ansieht, stutzen. Mir fällt das kleine Muttermal unterhalb meines linken Auges auf und die Narbe am Haaransatz, die ich mir mit drei Jahren bei einem Sturz von der Treppe zugezogen habe. Diese beiden Merkmale machen mein Gesicht absolut einzigartig. Mich gibt es nur einmal. Und die Vergangenheit ist vergangen, es ist vollkommen undenkbar, dass ich schon einmal gelebt haben soll oder so was. Und selbst wenn. Die Narbe habe ich erst in diesem Leben bekommen, es ist also unmöglich, dass ich sie auf dem Portrait finden werde. Als ich frisch geduscht und angezogen aus dem Bad in mein Zimmer trete, fühle ich mich kräftig und mutig genug, noch einmal einen Blick auf das Bild zu werfen. Ich muss einfach wissen, ob die Narbe drauf ist. Ich muss es wissen. Ungeduldig werfe ich meine alten Sachen auf den Boden – so ist die Unordnung in meinem Zimmer entstanden – und setzte mich an meinen Schreibtisch. Direkt hinter – oder vor? – das Buch. Mit zitternden Fingern schlage ich es auf. Einfach irgendwo in der Mitte. Von der geöffneten Seite starrt mich ein grimmig guckender, weiß bärtiger Mann an. Auf meinem Rücken macht sich Gänsehaut breit und mein Herz beginnt vor Aufregung schneller zu schlagen. Seine stahlgrauen Augen sehen so lebendig aus, als würden sie jeden Augenblick blinzeln. Der Maler dieses Bildes hatte wirklich Talent. Ich reiße mich vom Anblick dieser Seite los und blättere weiter. Der ganze dicke Schinken scheint nur aus Portraits mit dazu passenden Charakterisierungen zu bestehen. Immerhin bleibt es seinem Stil treu. Als ich gerade die nächste Seite aufschlagen wollte bleibt mein Blick an etwas auf dem aktuellen Bild hängen. Es zeigt eine feingekleidete Dame, die auf etwas sitzt, was jedoch von ihren weit ausgebreiteten Röcken verdeckt wird. Sie sieht eigentlich aus, wie die ganzen anderen hundert Weiber, die ich bereits in dem Buch gesehen habe. Bis auf ein kleines Detail. Das, was meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat, ist ein kleiner Farbklecks, vielleicht ein reines Versehen, direkt unter ihrem linken Auge. Wie gebannt starre ich darauf, als wäre dieser Klecks das achte Weltwunder. Ich suche nach weiteren Ähnlichkeiten zwischen mir und der fremden Frau, doch außer dem Klecks und ihren leichten Sommersprossen kann ich nichts finden. Sie hat langes, blondes Haar, was so glatt über ihre schmalen Schultern fällt, als wäre es gebügelt worden. Ihre dunklen, braunen Augen blicken mich so warm und freundlich an, dass ich sofort das Gefühl bekomme, ihr vertrauen zu können. Sie sieht aus wie eine junge, glückliche Mutter, die ihr Kind betrachtet. Aber ich bin nicht ihr Kind. Und diese Frau ist nicht meine Mutter. Sie ist nur eine Blondine mit einem Farbklecks unter dem Auge.

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Puhh, endlich Ferien! Sorry für die lange Pause aber ...... ich war beschäftigt ..... hauptsächlich mit schwitzen ..... ist es bei euch auch so warm?! Naja :D 

Gruß Katiiiie ;)

Die Vergangenheit ist meine ZukunftWo Geschichten leben. Entdecke jetzt