Die Vergangenheit ist meine Zukunft

Kapitel 14

Stattdessen gehe ich auf Kyle zu, der inzwischen seinem PC zugewandt auf seinem Schreibtischstuhl sitzt und stelle mich hinter ihn. Mit den Händen auf der Lehne beuge ich mich so weit nach vorne, dass ich erkenne, was er macht. Scheinbar kopiert er einige Stellen aus dem Bericht und fügt sie in ein Textdokument. Dann druckt er dieses scheinbar irgendwo aus, doch ich kann nirgendwo einen Drucker finden.

„Was genau wird das?", frage ich also, um der Sache auf den Grund zu gehen.

Doch anstatt mir zu antworten steht Kyle auf und verlässt den Raum. Ich überlege nicht lange und überfliege den kurzen noch markierten Abschnitt des Textes.

Das Reich Yorkshire musste im 18. Jahrhundert einige Rückschläge der schottischen Clans abwehren und daher einige schwere Verluste ertragen. Lord Alan VI. von Yorkshire jedoch hatte einen Plan ausgearbeitet, wie er den Frieden zwischen dem englischen und dem schottischen Reich wieder herstellen konnte. Als am Ende des 18. Jahrhunderts seine Tochter Roselin geboren wurde, verfügte er, dass sie, sobald sie im heiratsfähigen Alter wäre, einen schottischen Clan Chief heiraten und somit eine Verbindung zwischen Schottland und England schaffen würde. Doch auch dieser Plan scheiterte, als die kleine Lady mit noch nicht einmal einem Lebensjahr in den Wäldern, die die beiden Reiche voneinander trennten, unauffindbar verschwand. Doch selbst, als sie nach einige Jahren wieder auftauchte, ging sie die Hochzeit mit dem für sie vorgesehenen Mann nicht ein. Als sie ein weiteres Mal verschwand und leblos in einer Schlucht gefunden wurde, fand die Vermählung von Chief Lazlo MacBlair und Roselin's kleiner Schwester Lady Sarah von Yorkshire statt, welche den Frieden zumindest für einige Jahrzehnte wieder herstellte, bis es zu den Aufständen der Schotten im späten 19. Jahrhundert kam.

Ich habe eine Schwester. Eine seltsame Vorstellung. Doch leider kann ich nicht weiter darüber nachdenken, was das bedeutet, denn auf einmal höre ich Schritte von unten. Sofort erhebe ich mich wieder von Kyles Schreibtischstuhl und gehe zurück zu seinem Bett. Gerade als ich mein Glas mit Wasser an meinen Lippen ansetze kommt er herein und schmeißt sich neben mich auf das Bett. Jedoch kommt das so unerwartet, dass ich nicht mehr genug Zeit habe mich auf die Erschütterung der Matratze einzustellen und das Wasser überall landet, nur nicht in meinem Mund. Mein halbes Top ist durchnässt, genauso wie das Shirt von Kyle. Zu seinem Pech trägt er weiß und ich kann seinen muskulösen Rücken durch sein Oberteil erkennen. Ich hätte nicht erwartet, dass er trainiert – aber ich kenne ihn ja auch kaum. Vielleicht macht er auch einfach nur gern Sport. „Toll. Geht es nicht noch ein wenig schwungvoller?" Vor mich hin schimpfend stehe ich auf und stelle das noch halb volle Glas auf den Nachttisch. Ein Fehler, wie sich herausstellen sollte, denn Kyle nimmt es an sich und grinst dreckig. „Keine halben Sachen." Mit diesen Worten holt aus und schüttet mir den restlichen Inhalt direkt in Gesicht und Ausschnitt. Mistkerl. Sein Glück, dass ich kein Freund von Schminke und weißen Tops bin. Das Wasser, welches ich nun doch in den Mund bekommen habe, schlucke ich runter und fahre mir mit den Händen über die Augen, um wieder etwas sehen zu können. Als ich meine Augen wieder öffne, steht Kyle grinsend vor mir und sieht mich an. Ich lege all meine Wut in meinen Blick und er weicht zurück. Ich mache einen Schritt nach vorne – er einen zurück. Solange, bis er auf das Bett fällt. Keine Sekunde habe ich den Blickkontakt abgebrochen und krabble nun ebenfalls auf das Bett. Sein Rücken presst sich gegen die Wand und macht diese ganz nass – doch das scheint er gar nicht zu bemerken. Vollkommen fixiert auf meine Augen wird sein Atem immer flacher, je näher ich seinem Gesicht komme. Ich Genieße den Einfluss, den ich auf ihn habe. Ich weiß nicht, wieso ich eine solche Wirkung hervorrufe, aber es gefällt mir. Und es kann durchaus nützlich sein. Kurz bevor meine Lippen seine berühren halte ich inne und registriere, wie sein Blick ganz kurz zu meinem Mund huscht, bevor er sich wieder in meinen wütenden Augen verfängt. „Mach das nie wieder." Der ernste Tonfall meiner Stimme überrascht mich selbst. Während ich spreche vergrößern sich Kyles Pupillen und das blau verschwindet mit jeder Silbe ein wenig mehr. Ich habe die leise Vermutung, dass seine Gedanken schon längst nicht mehr bei dem Wasser sind, also ziehe ich mich langsam zurück.

Beim Aufstehen greife ich nach den Blättern, die er ausgedruckt hat und auf denen zum Glück kein Wasser gelandet ist.

Wie zu erwarten springt mir auf einem der beiden Blätter der Bericht ins Auge, den ich eben schon auf dem Bildschirm gelesen habe. Und wieder bildet sich ein Kloß in meinem Hals, während ich ihn noch einmal kurz überfliege. Roselin's kleiner Schwester Lady Sarah von Yorkshire. Kleine Schwester. Ich habe in meinem Leben keinen einzigen Gedanken daran verschwendet, wie es wäre, kein Einzelkind zu sein.

Natürlich stelle ich mir manchmal vor, wie mein Leben mit Vater verlaufen wäre, aber Geschwister? Nein.

„Immerhin heiratest du nicht." Kyle lächelt mich aufmunternd an. Ich kann nur wenig begeistert zurückschauen, denn laut der ganzen Berichte werde ich nicht heiraten, weil ich vorher sterbe. Ich weiß nicht, ob ich mich darüber freuen kann.

„Ich habe dir noch einmal einen anderen Bericht ausgedruckt, wo ein paar Informationen über Lady Sarah von Yorkshire zu finden sind. Doch sie scheint nicht im Geringsten so viel Aufsehen erregt zu haben wie Roselin – also .... du."

Seine Worte erschrecken mich nicht einmal mehr. Inzwischen scheine ich mich damit abgefunden zu haben, dass diese Roselin wirklich ich sein könnte. Nur wie das ganze funktioniert haben soll – das weiß ich immer noch nicht. Ich sehe Kyle an und muss lächeln. Er ist wider Erwarten eine wirkliche Hilfe. „Danke. Für deine Mühe und – naja, das Aufheitern. Auch wenn ich die kleine Dusche von eben nicht vergessen habe." Mein Lächeln wandelt sich zu einem Grinsen und wir fangen beide laut an zu lachen. Vielleicht ist eine Freundschaft doch keine so schlechte Sache.