Kapitel 13

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Als ich am nächsten Morgen aufwache geht es mir schon viel besser und ich fühle mich fit für den letzten Tag. Dieser erweist sich als nicht sonderlich ereignisreich, sodass ich nach der letzten Stunde pünktlich am Ausgang der Schule stehe und auf Kyle warte. Doch der lässt auf sich warten. Nach einer viertel Stunde spiele ich mit dem Gedanken, einfach zu gehen, doch als hätte er es gespürt tritt er mit zerzaustem Haar und roten Wangen aus der Tür und kommt auf mich zu. Bei seinem Anblick muss ich lachen. „Na, noch ne heiße Nummer gehabt?" Mir tut schon der Bauch weh vor Lachen, weil er wirklich so aussieht. „Haha. Ne, ich hab gestern vergessen meine Klausur abzugeben und hab sie verzweifelt in meiner Tasche gesucht, bis ich sie schließlich in einem meiner Bücher gefunden habe. Dafür kriege ich natürlich keine gute Note. Und dann bin ich gelaufen, weil ich ja wusste, dass du wartest." Die Geschichte hört sich eher wie eine Ausrede an, doch ich habe keine Zeit und keine Lust, darüber nachzudenken, ob ich ihm glauben soll oder nicht. Doch als ich aus dem Augenwinkel ein blondes Mädchen wahrnehme, das einen ähnlichen Look trägt wie Kyle, ist mir klar, dass er gelogen hat. Aber ich lasse es mir nicht anmerken. Ich wusste von Anfang an, dass ich ihm nicht vertrauen kann. Wir sind nicht wirklich befreundet, es war also zu erwarten. Verwundert nehme ich einen leisen Drang in mir wahr, der ihn am liebsten anschreien würde. Doch ich ignoriere ihn – ich habe kein Recht, wütend auf ihn zu sein.

Ich gehe neben ihm zur Bushaltestelle und setzte mich im Bus ebenfalls neben ihn. Das liegt jedoch nur daran, dass er sich auf einen zweier Sitz gesetzt hat – ich hatte also keine andere Wahl. Während der Fahrt dreht er sich zu mir und sieht mich aus seinen blauen Augen an. Es fühlt sich an als wolle er mich elektrisieren, doch wenn ich wegsehe, habe ich das Gefühl, verloren zu haben – und ich verliere nie. Also sehe ich es als eine Art Wettkampf an und starre trotzig zurück. Plötzlich spüre ich eine Berührung an meiner Hand, doch ich zwinge mich, ihm weiter in die Augen zu sehen. Es ist mir unangenehm, aber ich brauche ihn noch. Schließlich entziehe ich ihm doch meine Hand und drehe mich von ihm weg, als wäre nichts gewesen.

„Ich hab das Buch übrigens nicht dabei. Es war mir einfach zu schwer." Ich sehe ihn nicht an und schaue stur geradeaus. Es interessiert mich nicht im geringsten, wie er über mich denkt oder was er in mir sieht. Daher berührt es mich auch nicht als er sich vorbeugt und mich entsetzt ansieht. Beinahe so, als hätte ich ihm gerade erzählt, ich käme vom Mond. Gleichgültig blicke ich ihm ins Gesicht. „Was denn? Ich hab gestern noch einmal darin gelesen und alles wichtige raus geschrieben." Er zieht eine Augenbraue hoch, doch dann lehnt er sich wieder zurück und verschränkt die Arme vor der Brust. „Na wenn du meinst. Ist schließlich dein Leben." Der lockere und freundschaftliche Umgang von gestern ist verschwunden und ich habe das Gefühl, neben einem Feind zu sitzen. Immerhin hat er mich belogen. Ich kann ihm nicht vertrauen. Und mir ist es auch ziemlich egal, ob er mir vertraut oder nicht, also gebe ich mir keine Mühe. Trotzdem ärgert es mich, dass er jetzt so gleichgültig tut. Wie soll er denn in diesem Zustand brauchbare Ideen liefern?

Als wir aussteigen müssen hat er immer noch kein weiteres Wort gesagt, wodurch ich mir nicht mehr ganz sicher bin, was gerade in ihm vorgeht. Also beschließe ich, leichte Konversation zu betreiben. Zumindest so gut ich es kann. „Also, wie war dein Tag denn so?" Eine ziemlich dämliche Frage. Als wären wir verheiratet und äßen gerade zu Abend. Oder als wäre ich seine Mutter. Aber etwas besseres fällt mir gerade einfach nicht ein. Ungläubig sieht er mich an, muss dann aber doch grinsen. Während er in eine Hauseinfahrt einbiegt antwortet er mir. „Eigentlich ganz gut. Die letzten Tage sind immer die entspanntesten. Und bei dir?" Er schließt die weiße Haustür auf, die in der Mitte eine Glasscheibe eingebaut hat und auch sonst sehr schlicht gehalten ist. Erst jetzt wird mir bewusst, dass wir wohl bei ihm zu Hause angekommen sein müssen und ich mache zwei Schritte zurück. „Was machst du?" Fragend sieht er mich an, während er mir die Tür aufhält. „Ich sehe mir das Haus an." Es ist hell gestrichen, eine Art Beige, und nicht wirklich groß. Das Dach läuft spitz zu, was dem Haus den Hauch eines Hexenhäuschens gibt, der jedoch durch die großen dominierenden Fenster wieder aufgehoben wird. Alles in allem sieht es sehr modern aus.

Mit geweckter Neugier gehe ich an Kyle vorbei ins Innere seiner Behausung. Auch hier ist alles sehr schlicht und in hellen Farben gehalten.

In Kyles Zimmer, das sich im ersten Stock befindet, bietet er mir an, mich zu setzten. Ich entscheide mich für sein riesiges Bett, das direkt unter dem großen Fenster steht, aus dem man einen wunderschönen Blick über ganz Greenwich hat. Der Schreibtisch nimmt nahezu ein drittel des geräumigen Zimmers ein und bietet Platz für einige technische Sachen, wie zwei große Bildschirme, eine Tastatur und einiges andere, was ich noch nie in meinem Leben gesehen habe.

„Möchtest du was trinken?" Vollkommen perplex sehe ich ihn einige Sekunden schweigend mit großen Augen an. „Äh, ja gern. Hast du Wasser?" Ich lächle ihn schüchtern an und bemerke, wie er kurz die Luft anhält bevor er mir mit einem leisen 'Klar' mein Wasser holen geht. Während er unten in der Küche ist stehe ich auf und sehe mir sein Zimmer etwas genauer an. Ich streife mit den Fingerspitzen über seinen Schreibtisch und berühre dabei aus Versehen die Maus. Urplötzlich leuchten beide Bildschirme auf und lassen erkennen, was Kyle zuletzt getrieben haben muss. Auf dem einen ist ein großes Gesicht abgebildet – unverkennbar mein eigenes. Unter dem Bild ist ganz klein die Bildunterschrift zu erkennen – Lady Roselin von Yorkshire. Der andere zeigt einen Artikel über das Reich Yorkshire im späten 18. Jahrhundert und die wichtigsten Ereignisse dieser Zeit.

Gerade als ich mich auf seinen Schreibtischstuhl fallen lassen will um den Text zu überfliegen höre ich ein Geräusch von unten und beschließe, meine Tour durch das Zimmer fortzusetzen, als hätte ich den Bericht und das Bild nie gesehen. Ich sollte nicht das Risiko eingehen, dass Kyle sauer auf mich wird. Immerhin scheint er sich wirklich mit meinem Problem zu beschäftigen – was wirklich lieb ist.

Plötzlich fällt mir ein Möbelstück ins Auge, das kaum noch zu erkennen ist. Es liegen haufenweise Kleidungsstücke darauf – vollkommen unsortiert und unordentlich. Der Stuhl. Jeder scheint diesen Stuhl zu haben. Dieser Stuhl, auf dem die Sachen vom Vortag liegen, die man eigentlich nochmal anziehen kann, aber dann wieder vergisst, da bereits die Sachen vom nächsten Tag darüber liegen.

„Ähm – Rose?" Ich erstarre kurz vor Schreck und drehe mich dann langsam zu Kyle um. Mit großen Augen sehe ich ihn fragend an und bemerke ein weiteres Mal, dass er für einen kurzen Moment die Luft anzuhalten scheint – was auch immer das bezwecken soll. „Ich .... dein Wasser." Beinahe schüchtern stottert er vor sich hin und hält mir ein Glas entgegen. Doch dann scheint er sich daran zu erinnern, dass er ja eigentlich sehr selbstbewusst ist und richtet sich unmerklich auf. Während ich ein leises 'Danke' murmle sieht er sich um und sein Blick bleibt an den hellen Bildschirmen hängen. „Sag mal, warst du an meinem PC?", fragt er etwas panisch. Schuldbewusst senke ich meinen Blick und starre auf meine Fußspitzen. Ich habe oft beobachtet, dass ein solches Verhalten einem Mädchen einige Vorteile bei Jungs bringen kann. Um dem Ganzen die nötige Wirkung zu verleihen, sehe ich ihm mit großen Augen von unten herauf ins Gesicht. „Ich hab nichts gemacht, bin nur an die Maus gekommen. Sorry."

Sofort wird sein Gesichtsausdruck butterweich und er kommt auf mich zu. Mit Daumen und Zeigefinger greift er nach meinem Kinn und zieht mein Gesicht zu sich hoch. Ein wenig zu nah an sein eigenes, doch ich wehre mich nicht dagegen, um zu sehen, ob mein Verhalten wirklich das bewirkt, was ich glaube.

Sein Blick wird immer intensiver und ich bin kurz davor wegzusehen, als ich eine Hand an meiner Hüfte spüre und sich das Gefühl von Bedrängnis in mir breit macht. Doch anstatt mich loszulassen zieht er mich noch näher an sich ran und kommt mit seinem Gesicht ganz an meines heran. Panik steigt in mir auf und mein Atem beschleunigt sich. Doch entgegen meiner Befürchtungen legt er nicht seine Lippen auf meine, sondern streift mit ihnen nur leicht meine Wange, bis sein Mund sein Ziel erreicht hat – mein Ohr. Während er flüstert, kitzelt mich sein Atem und nimmt mir ein wenig das Gefühl der Beklommenheit.

„Kein Problem. Hätte es dir eh gleich gezeigt, Süße." Mit diesen Worten entfernt er sich von mir und schlendert zu seinem PC zurück. Ich schnappe nach Luft. Süße?! Er sollte aufpassen mit dem, was er sagt. Doch da ich immer noch nicht weiß, was er möglicherweise herausgefunden hat, lasse ich auch dieses Verhalten unkommentiert.

Die Vergangenheit ist meine ZukunftWo Geschichten leben. Entdecke jetzt