In meinem Kopf reift ein Plan heran, der nach dringender Umsetzung fordert. Und kopflastig wie ich nun einmal bin, entscheide ich mich dazu, das Verfolgen des Plans wenigstens in Erwägung zu ziehen. Ich suche in dem Regal nach weiteren Tagebüchern und werde nach einiger Zeit sogar fündig. Auf der Suche nach einer genaueren Beschreibung des Campingplatzes stoße ich auf allerlei Zeugs, was ich nie über meine Mutter wissen wollte – aber leider auch nie wieder vergessen werde. Wie aussieht, war sie als Teenager depressiv – und dick. Als ich auf eine Seite komme, die mit Meine erste Nacht überschrieben ist, bin ich kurz davor, dem Buch mein Mittagessen zu präsentieren. Schnell blättere ich weiter und bleibe an einer Textstelle hängen, in der von Bäumen und Wäldern die Rede ist. Auf der Seite davor finde ich schließlich, wonach ich gesucht habe.
Das erste Mal in meinem Leben fahre ich alleine nach Schottland in die Nähe von Glasgow. Hier bin ich eigentlich jedes Jahr mit meiner Familie hin gefahren, doch sie konnte diesmal nicht mit – meine kleine Schwester macht bald ihren Abschluss, da haben sie gesagt, wenn ich mag, darf ich allein fahren. Ich bin ja inzwischen volljährig und wohne nur noch bei ihnen – da tut ein bisschen Zeit für mich allein auch mal ganz gut. Zuerst bin ich also mit dem Zug nach Glasgow und von dort aus weiter in das kleine Städtchen Canonbie. Ich bin noch nie per Anhalter gefahren, aber ich hätte nicht gedacht, dass es so lustig werden würde. Ein alter Typ hielt an und hat mich gefragt, ob er mich mitnehmen soll. Er fuhr einen riesigen Truck und hatte einen Bart von hier bis zum Mond. Aber sonst war es eigentlich richtig nett – er hat mir sogar ein Essen an einer Pommes Bude spendiert, als wir an einer Raststätte halt gemacht haben.
Obwohl die Seite noch nicht zu ende ist, hebe ich den Kopf. Ich bin mir ganz sicher ein Geräusch gehört zu haben. Erst jetzt wird mir bewusst wie kalt es hier unten ist. Ich sitze mit meinem Hintern, der nur mit einer Jogginghose bekleidet ist, auf dem kalten Betonboden und spüre ihn kaum noch. Meine Fingernägel sind ganz blau und meine Zähne klappern aufeinander. Wie kann mir das erst jetzt auffallen? War ich wirklich so in die Tagebücher vertieft?
„KRRRCH!" Das Geräusch reißt mich wieder aus meinen Gedanken. Jetzt bin ich mir absolut sicher, dass da etwas ist – und es ist nicht menschlich. Langsam erhebe ich mich, so gut das eben mit eingefrorenen Gliedmaßen möglich ist, und starre in die hintere Ecke des kleinen Raumes, aus der das Geräusch kam. Vorsichtig klappe ich das Buch zu und stecke es mir unter der Jacke in den Hosenbund – für die Tasche ist es zu groß. Als ich meinen Blick wieder auf die Ecke richte, blicken mich zwei riesige rote Augen an. Sie gehören zu einem kleinen Tier mit vier Pfoten, langer Schnauze und sehr langem Schwanz – eine Ratte!
„Ahh!" Ich quietsche auf und beginne wild auf der Stelle hin und her zu hüpfen. Plötzlich durchzuckt mich ein Schmerz. Ich bin mit dem Fuß schief aufgekommen und habe ihn mir umgeknickt. Ich und mein Glück. Die Ratte nähert sich meinem Standort und ich gerate immer mehr in Panik, weil ich nicht weiß, was ich tun soll. Was, wenn sie Tollwut hat? Oder irgend eine tödliche Krankheit überträgt? Ich bewege mich langsam Richtung Tür und strecke meine Hand danach aus, als diese plötzlich von außen geöffnet wird und ich mit meiner Hand ins Leere taste. Natürlich verliere ich dabei das Gleichgewicht und falle geradewegs in meinen Nachbarn hinein. Er ist um die 23 Jahre alt und sieht verhältnismäßig gut aus. Trotzdem habe ich keinerlei Bezug zu ihm, was die Tatsache, dass ich nun in seinen Armen liege, nur peinlicher macht.
„Oh. Ich wollte nicht stören. Ich habe nur einen Schrei gehört und dachte du bräuchtest vielleicht Hilfe." Seine tiefe Stimme so nah an meinem Ohr verwirrt mich nur noch zusätzlich und ich bemühe mich, die Fassung zu bewahren. Hinter mir eine Ratte, um ich herum die Arme eines nahezu Fremden und in der Hose ein verbotenes Buch – das ist zu viel für mich. Schnell stelle ich mich wieder auf meine Beinen und entferne mich von dem Kerl. „Ja. Danke, aber das wäre nicht nötig gewesen. Ich habe nur Bekanntschaft mit einer Ratte gemacht." Als hätte ich irgend ein Codewort gesagt schnellt sein Kopf in die Richtung des Kellerraums in dem die Ratte sitzt. „Eine Ratte?" Seine Stimme scheint plötzlich um Oktaven gestiegen zu sein und man sieht ihm die Angst, die er zu verspüren scheint, förmlich an. Aus seinem Gesicht weicht jegliche Farbe und seine Augen weiten sich an den Rand des Unmöglichen. Der Anblick eines erwachsenen jungen Mannes, der Angst vor einer Ratte hat kommt mir in der aktuellen Situation so absurd vor, dass ich nur schwer ein hysterisches Lachen unterdrücken kann. Ich gehe auf ihn zu und schließe die Tür, damit er nicht noch an einem Herzinfarkt stirbt. Ich versuche, ihn anzulächeln, ohne ihn auszulachen und sage mit beruhigender Stimme: „Danke noch mal." Damit drehe ich mich um und gehe wieder rauf. Zum Glück hat der Intelligenzbolzen das Licht nicht ausgeschaltet, sodass ich ohne Probleme die Treppenstufen erkennen kann. Oben angekommen wandert mein Blick als erstes zu der Uhr über der Tür zum Wohnzimmer. Mir stockt der Atem. Ich war fast eine halbe Stunde da unten! Als meine Mum aus der Küche tritt trägt sie Schuhe und Jacke. „Rose! Ich wollte dich gerade suchen gehen! Was hast du denn da unten gemacht? Und was ist mit deinem Gesicht? Hast du etwa geweint?" Das sorgenvolle Gesicht meiner Mutter bricht mir das Herz. Wie soll ich ihr jemals sagen, dass ich weiß, dass sie nicht meine Mum ist? Ich würde es bestimmt niemals übers Herz bringen. Ich weiche ihrem Blick aus und versuche die Tränen, die in mir aufsteigen, zu unterdrücken. Die kurze Welle der guten Laune von eben ist so schnell verschwunden wie sie gekommen war. „Rose?" Die Unsicherheit in ihrer Stimme lässt mich beinahe verzweifeln. Sie wird mir jetzt ein alles okay nicht mehr abkaufen. Ich habe nur eine Möglichkeit – ich muss sie belügen. Da kommt mir der Gedanke, die Realität einfach neu zu verknüpfen – die Zusammenhänge der Ereignisse zu ändern. „Ich habe mir den Fuß umgeknickt und das hat wehgetan. Das Licht unten ist ausgefallen, deshalb hab ich ziemlich lange gebraucht, die Treppe runter zu gehen." Ich versuche mich an einem zerknirschten Blick und sehe ihr wieder in die Augen – es kostet mich all meine Kraft. Ich hatte noch nie ein Geheimnis vor ihr. Aber wenn sie meine gesamte Existenz vor mir geheim halten darf, muss ich ihr auch nicht alles sagen, was ich weiß. Das ist nur fair. Erst sieht sie mich skeptisch an, so als würde sie überlegen, ob sie mir glauben soll, scheint sich aber dann zu entscheiden, mir die Geschichte ab zu kaufen. „Mein armer Schatz! Tut der Fuß immer noch weh?" Mit besorgter Miene wartet sie auf meine Antwort. „Nein nein, auf dem Weg nach oben ging es schon wieder. Ich mach einfach noch mal einen kalten Wickel drum und dann ist das morgen wieder weg." Ich will so schnell wie möglich rauf in mein Zimmer. Lange halt ich das nicht mehr aus. Als sie sich umdreht um mir mit Küchentüchern einen kalten Wickel zu machen schließe ich kurz meine Auge und atme tief ein. Ich habe das Recht zu erfahren, wo ich herkomme. Ich habe ein Recht darauf, meine eigene Geschichte zu erforschen. Meine Mutter hat sie mir von Anfang an vorenthalten – sie wird mir also nicht dabei helfen, sie zu entdecken. Wenn ich meinen Plan durchsetzten will, dann darf sie nicht wissen, was ich herausgefunden habe. Ich darf jetzt nicht schwach werden, wenn ich wissen will, wer ich bin. Als hätte ich ein paar Beruhigungspillen eingeworfen fühle ich mich plötzlich befreit. Ich straffe meine Schultern und stelle mich aufrechter hin – bereit für den Kampf. Einen Kampf, von dem nur ich etwas weiß und der dennoch zwei Seiten hat. Ich werde ihn nicht verlieren – ich verliere nie.
Mit festem Blick sehe ich meine Mum an, als sie sich mit einem nassen Tuch wieder zu mir dreht. „Hier. Geh nach oben und wickle das um deinen Fuß – das hilft bestimmt." Ihr warmes Lächeln berührt mich nicht. Die Mauer, die ich als Rüstung um mein Herz gebaut habe lässt nicht zu, dass sie mich mit ihrer mütterlichen Liebe dazu bringt, einzubrechen. Dazu bringt, zu verlieren. Niemals. Sie hat mich belogen – mein ganzes Leben lang. Sie mag meine Mum sein – meine einzige Mum – und doch hat sie im Moment kein Recht auf meine Zuneigung. Sie hat kein Recht darauf, weiterhin an meinem Leben teilzuhaben. Irgendwann wieder – wenn ich weiß, wer ich bin. Aber nicht jetzt. Um meine Tarnung als unwissendes Schaf zu bewahren werfe ich ihr ein dankendes Lächeln zu und begebe mich mit dem nassen Lappen in mein Zimmer. Er hinterlässt kleine Tropfen auf der Treppe, auf denen ich beinahe schon wieder ausgerutscht wäre. Gewundert hätte mich das heute nicht mehr.
DU LIEST GERADE
Die Vergangenheit ist meine Zukunft
JugendliteraturDie 16-jährige Rose Allington muss plötzlich feststellen, dass sie scheinbar eine Doppelgängerin in der Vergangenheit hat. Zusammen mit einem ihr noch fremden Jungen macht sie sich auf die Suche nach Hinweisen über dieses mysteriöse Mädchen - und fi...