Kapitel 10

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Heile oben angekommen werfe ich den Lappen in den Mülleimer unter meinem Schreibtisch und hole das Tagebuch aus meinem Hosenbund. Ich verstecke es unter meinem Kopfkissen, damit meine Mum es nicht direkt sieht, falls sie gleich noch einmal hoch kommt um nach mir zu sehen.

Dann mache ich mich auf die Suche nach einem großen dicken Buch, das ich nicht mehr brauche – das ist gar nicht so einfach, da ich nicht viele unnötige Bücher besitze. Ich bin sowieso der Ansicht, dass es keine unnötigen Bücher gibt. Dennoch fällt mir zur Zeit kein besseres Versteck ein, also nehme ich mir einen Frauenroman, den ich von meiner Mum mit den Worten „Der wird dir gefallen" bekommen habe. Ich hab das Buch nie berührt – es sieht von außen einfach schon unglaublich kitschig aus. Ich schlage den mit Unmengen an rosa Rosen bedeckten Einband auf und suche nach einem Teppichmesser. Nachdem ich ein Rechteck mit circa den Maßen des Tagebuchs in die Seiten des Romans geritzt habe, lege ich die Erzählungen meiner Mum in das Frauenbuch und schlage es zu. Man sieht ihm nichts an – es ist das ideale Versteck. Ich stelle das Buch zurück ins Regal, wobei mein Blick auf meinen Schreibtisch fällt. Ob ich noch einmal einen Blick in den dicken Schinken werfen soll, der darauf liegt? Lieber nicht, ich hatte heute genug Anstrengung für einen Tag. Direkt neben dem alten Buch der Legenden liegt mein Smartphone, nach dem ich kurzerhand greife um es an meine Musikanlage anzuschließen. Als ich das Display entsperre ist etwas anders als sonst – an dem Briefumschlag, der sonst immer ganz brav einfach nur am unteren Rand rumhängt prangt plötzlich eine dicke orangene eins. Ich habe offensichtlich eine SMS erhalten. Und mir ist sofort klar, von wem die sein muss – denn meine Mum hat mir noch nie eine geschrieben und meine Nummer hat sonst nur eine weitere Person – Kyle. Ich schmeiße mich rittlings auf mein Bett und öffne die digitale Nachricht.

Hi Rose, ich bin's Kyle!

Wie geht's denn jetzt weiter mit dem Buch – willst du das einfach so auf sich beruhen lassen? :o

20:32 Uhr

Ungläubig sehe ich auf die Nachricht. Warum interessiert ihn das? Er hat doch theoretisch gesehen gar nichts mit der Sache zu tun. Es ist mein Leben, was gerade Kopf steht – nicht seines. Andererseits könnte er mir vielleicht behilflich sein. Morgen ist der letzte Schultag vor den Ferien, was bedeutet, dass ich danach jede Menge Zeit habe, um meinen Plan auszutüfteln. Aber wenn ich ihn einweihe besteht die Möglichkeit, dass er meiner Mutter davon erzählt, was unter gar keinen Umständen passieren darf. Gedankenverloren liege ich auf meinem Bett, das Handy neben mir liegend und wiege die Argumente gegeneinander ab, ob ich Kyle von meiner Existenz und meinem Vorhaben erzählen soll. Daher bemerke ich meine Mum auch erst, als ihr Schatten in mein Gesicht fällt und sie mich liebevoll anlächelt. Wie vom Blitz getroffen setzte ich mich auf und spüre, wie mein Puls steigt. „Mum! Du hast mich zu Tode erschreckt!" Schwer atmend versuche ich, meinen Herzschlag wieder unter Kontrolle zu bekommen und hätte vor Schreck beinahe vergessen, dass ich ja eigentlich einen Krieg mit meiner Mutter führe. Innerlich beginne ich, meine Mauern wieder aufzubauen und neutralisiere meinen Gesichtsausdruck, um eine gespielt freundliche Mine aufzulegen.

„Wie geht es deinem Fuß?" Ihr Blick wandert mein Bein entlang zu meinem Fußgelenk, das gesund und munter auf der Bettdecke liegt und nicht im geringsten schmerzt. „Der Wickel hat zum Glück geholfen und er tut kaum noch weh", lüge ich sie an. Es schmerzt immer noch ein wenig, aber ist schon viel leichter als beim ersten Mal. Wird es immer einfacher werden, den einzigen Menschen, der mir etwas bedeutet, anzulügen?

Zum Glück verlässt meine Mum das Zimmer verhältnismäßig schnell wieder, sodass ich einen weiteren Blick auf die Nachricht von Kyle riskieren kann. Warum interessiert er sich dafür? Hat er kein eigenes Leben? Eine Zeit lang überlege ich, ob ich ihn einfach ignorieren und so tun soll, als ob ich ihn nie getroffen hätte. Das Buch würde ich einfach in seinem Namen zurückgeben. Doch irgendetwas hält mich davon ab, seine Nachricht zu löschen. Eigentlich war seine Gegenwart nicht störend, sondern vielmehr angenehm. Und vielleicht könnte er mir ja wirklich behilflich sein – ich muss ihm ja nicht alle Details erzählen. Zum ersten Mal sehe ich einen Vorteil darin, eine Freundschaft – oder zumindest eine nähere Bekanntschaft einzugehen.

Ich tippe auf das Schreibfenster im Display, um ihm zu antworten.

Hey Kyle

Natürlich lasse ich das nicht einfach so liegen. Ich habe einen Plan, um herauszufinden,

was es mit dieser Sache auf sich hat .... willst du mir helfen? ;)

20:49 Uhr

Mal sehen, wie er darauf reagiert. War es die richtige Entscheidung ihn einzuweihen? Ich kann jetzt keinen Rückzieher mehr machen. Ich habe mich entschieden. Unumstößlich. Ich habe meine Vorsätze über Bord geworfen, niemandem zu trauen. Obwohl meine Mutter – die einzige Person, der ich vertraut habe – gerade mein Vertrauen gebrochen hat, weihe ich einen Fremden in meine Geheimnisse ein. Ich verstehe mich selber nicht – und das regt mich auf. Ich lasse mich nach hinten auf mein großes Bett fallen und starre an meine weiße Decke. Ich wollte mein Zimmer weiß haben – jede andere Farbe hätte bei meiner Ordnung nur noch mehr für Chaos gesorgt.

Ich schließe die Augen, doch sobald das Weiß der Wand verschwindet taucht vor meinem inneren Auge das Bild des Mädchens auf, was ich in dem Buch gefunden habe. Wütend schiebe ich es in die hinterste Ecke meines Hirns. Ich möchte nicht mehr daran denken, zumindest für eine kurze Zeit will ich so tun, als wäre alles in Ordnung. So, als wäre meine Mum meine Mum, als wäre das Buch auf meinem Schreibtisch nur ein Buch ohne seltsame Bilder und so, als wäre ich ein ganz normales siebzehnjähriges Mädchen. Doch sobald das Bild des Mädchens verschwunden ist, taucht ein weiteres auf. 

Das Bild eines kleinen Kindes, kein Jahr alt, was zwischen den hohen Grashalmen auf einer Lichtung liegt und die Sonne anlacht. Sein Kopf ist von unzähligen kleinen schwarzen Locken bedeckt, die riesigen blauen Augen glitzern vor Freude. Ein junges Reh steht am Rand der Lichtung und beobachtet das Baby, während ein junger Fuchs sich langsam heranpirscht. Doch anstatt Angst zu verspüren streckt das Kind die kleinen Händchen nach dem roten Fell aus. Es sieht glücklich aus, so wie es dort liegt. So, als ob es dort hingehören würde – in den Wald, zu den Wiesen und den Tieren, die es umgeben. Das Bild ist so harmonisch, dass es schon fast unwirklich scheint. Die Sonne, die grüne Wiese, die Tiere und das Kind. Doch plötzlich verdeckt eine Wolke die Sonne und das Bild wird dunkel. Das Lächeln auf dem Gesicht des Kindes verschwindet und es beginnt, bitterlich zu weinen. Beinahe gleichzeitig setzt der Fuchs zum Sprung an und reißt das Maul so weit auf, dass man die scharfen Reißzähne sehen kann. Das Weinen verwandelt sich in einen Schrei – dann ist alles Still. Der Fuchs verdeckt die Sicht auf das Kind. Plötzlich dreht er seinen Kopf und sieht mich mit seinen dunklen Augen direkt an – seine Schnauze ist blutverschmiert.

Die Vergangenheit ist meine ZukunftWo Geschichten leben. Entdecke jetzt