Kapitel 7

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Ohne auf den Namen zu achten, schlage ich die nächste Seite auf – und blicke direkt in meine Augen. Beziehungsweise die meiner Doppelgängerin. Es ist nicht ganz so traumatisierend wie beim ersten Mal, doch trotzdem setzt mein Herzschlag für einige Sekunden aus und mein Magen fährt Achterbahn. Ich schließe die Augen und konzentriere mich auf meine Atmung. Einatmen – Ausatmen. Nach fünf Atemzügen öffne ich meine Augen wieder und sehe das Bild vor mir trotzig an. Na dann wollen wir mal. Zuerst sehe ich mir das rechte Auge genauer an, was ja in Wirklichkeit das linke ist. Darunter finde ich wie erwartet mein ovales Muttermal. Obwohl ich damit gerechnet hatte bin ich ein kleines Bisschen geschockt. Im Innern hab ich wohl doch gehofft, dass ich damit unter Beweis stellen kann, nicht dieses Mädchen zu sein. Ich löse meinen Blick von dem braunen Fleck und lasse meinen Blick nur mit großer Überwindung weiter nach oben gleiten. Wenn ich dort meine kleine Narbe finden würde, wäre das der letzte Beweis dafür, dass es mich nicht etwa schon einmal gab, sondern, dass ich das Ganze entweder schon ohne mein Wissen erlebt habe, oder dass ich es noch erleben werde. Ganz langsam und mit immer schneller werdendem Herzschlag wandern meine Augen nach oben. Kurz bevor sie den Haaransatz des Mädchens erreicht haben wird plötzlich neben mir die Tür aufgerissen und meine Mum stürzt herein. „Schatz, es gibt Essen." Erschrocken drehe ich mich um und schlage instinktiv das Buch zu. „Mum! Du hast mich vielleicht erschreckt!" Mein Herz hämmert immer noch schnell gegen meine Brust, sodass ich Angst habe, sie könnte es hören. Ich fühle mich, als hätte sie mich bei etwas Verbotenem erwischt. Und genauso sieht sie mich auch an. „Rose? Was hast du da?" Mit zusammengekniffenen Augen kommt sie auf mich zu und schiebt meinen Arm vom Buchdeckel. Doch sie beruhigt sich schnell wieder, nachdem sie den Titel gelesen hat. „Für ein Geschichtsreferat." Antworte ich auf ihre unausgesprochene Frage. Sie macht ein wissendes Gesicht und lächelt mich an. „Das kannst du doch auch noch nach dem Essen machen oder?" Ich erwidere ihr Lächeln instinktiv und stehe von meinem Schreibtischstuhl auf.

Nach dem Essen, es gab Spaghetti Bolognese, mache ich mir gar nicht die Mühe, wieder die Treppe zu meinem Zimmer hinaufzusteigen, sondern ziehe meine Schuhe und einen Sweater an, um im Keller nach einem Atlas zu suchen. Ich gehe in die Küche, wo meine Mum gerade den Geschirrspüler einräumt und suche in der Schale, in der normalerweise unsere Schlüssel liegen, nach dem für den Keller. Doch er ist nicht da. Auch unter der Kücheninsel, auf der die Schale steht, ist er nicht zu finden. „Mum? Wo ist der Schlüssel für den Keller?" Sie dreht sich zu mir und sieht mich fragend an. „Warum?" „Ich brauche einen Atlas für Erdkunde." Prüfend sieht sie erst mich, dann die Schüssel vor mir an. „Wenn er nicht da drin ist, weiß ich auch nicht .." Sie hält inne, als wäre ihr gerade etwas eingefallen. Sie stellt den Teller, den sie in der Hand hatte, auf die Anrichte und geht zur Garderobe im Flur. Nach einem kurzen Griff in ihre Jackentasche holt sie einen kleinen, silbern glänzenden Schlüssel hervor. „Hier! Ich hab mir gestern ein altes Paar Schuhe hoch geholt. Es wird ja langsam wieder wärmer draußen." Dankend nehme ich ihr den Schlüssel aus der Hand und mache mich auf den Weg nach unten. Wie so oft ist der Aufzug kaputt, sodass ich drei Stockwerke zu Fuß hinunter laufen muss. Im Erdgeschoss angekommen gehe ich durch einen großen Gang an den dort liegenden Wohnungstüren vorbei zur Kellertreppe. Als ich diese erreicht habe fühle ich mich, als hätte ich zwei Stunden Sport hinter mir. Ich stoße die große Holztür auf und suche nach dem Lichtschalter. Im Dunkeln Treppen runter zu laufen gehört nicht zu meinen Lieblingsbeschäftigungen. Ich betätige den zu meiner Rechten gefundenen Schalter und ein leises Brummen ertönt, bevor man das leichte Flackern einer Leuchtröhre an der Decke wahrnehmen kann. Nach den ersten Treppenstufen fällt die Tür hinter mir mit einem lauten Krachen zu und nach zwei weiteren gibt die Lampe über mir ein leises Knacken von sich, was mich innehalten lässt. Gerade als ich stehen bleibe ertönt ein leiser Knall und ich stehe im Dunklen. Vollkommen von Schwarz umgeben gehe ich im Kopf die Möglichkeiten durch, die dieses Desaster verursacht haben könnten. Ich bezweifle, dass das Anschalten dieses kleinen Lämpchens, was eben noch über mir geleuchtet hat, die Stromkapazität des Hauses überlastet haben kann, daher gibt es nur eine mögliche Erklärung – die Lampe ist kaputt. Und mal wieder keimt in mir die Frage auf, ob es in diesem Haus überhaupt einen Hausmeister gibt. Und wenn ja – wofür wird der dann bitte bezahlt? So langsam werde ich mir meiner blöden Lage bewusst. Ich hebe meine Hand vor mein Gesicht, zumindest glaube ich, dass sie vor meinem Gesicht schwebt, denn sehen kann ich sie nicht. Keine schemenhafte Gestalt. Nichts. Nur schwarz. Mit kleinen vorsichtigen Schritten gehe ich seitwärts auf der Treppenstufe, auf der ich mich befinde, Richtung Wand. Suchend strecke ich meine Hände nach dieser aus. Doch auch nach sechs Schrittchen langen meine Finger ins Leere. Panik macht sich in mir breit und ich riskiere einen großen Satz. Vollkommen unerwartet stoßen meine Fingerspitzen gegen die Wand und beginnen, unglaublich zu schmerzen. Ich schreie auf und klemme mir die Hände zwischen die Beine. Beim leichten nach vorne Beugen, was es dafür braucht, stoße ich mir den Kopf an der unsichtbaren Wand und schreie ein weiteres Mal auf, diesmal lauter. Ich presse meine schmerzende rechte Hand gegen meine Stirn und verliere das Gleichgewicht. Aus Reflex mache ich einen Schritt zur Seite – ein schwerer Fehler. Mein Fuß tritt ins Leere und ich habe keine Möglichkeit, mich irgendwo festzuhalten, da ich ja nach wie vor nichts sehen kann. Instinktiv schnellen meine Hände nach vorn, wo sie sofort mit dem Boden in Berührung kommen. Ich fühle eine scharfe Kante, die sich in meine Seite bohrt und bleibe mit schmerzverzerrtem Gesicht liegen. Mein Kopf hat nichts von dem Sturz abbekommen und liegt auf meinem linken Oberarm. Meine Arme schmerzen von Schulter bis Fingerspitze, doch ich muss hier erst irgendwie raus. Heulen bringt mir das Licht jetzt auch nicht wieder. Mühsam robbe ich nach vorn weiter in den Keller hinein – meinen pochenden Kopf ignoriere ich dabei gekonnt. Als auch meine Beine die letzte Stufe verlassen haben stehe ich langsam auf, darauf bedacht keine schnellen oder unüberlegten Bewegungen zu machen. Endlich festen Boden unter den Füßen mache ich mich auf die Suche nach dem nächsten Lichtschalter. Ich weiß, dass er irgendwo rechts von der Treppe liegt also drehe ich mich in diese Richtung und strecke die inzwischen weniger schmerzenden Finger nach der Wand des Ganges aus. Diese findet sich auch schneller, als die andere, da ich jetzt nicht mehr so genau aufpassen muss, wo ich hintrete. Vorsichtig fahre ich mit den Händen über die unebene, gemauerte Wand auf der Suche nach der Erlösung von der Dunkelheit. Da ertaste ich etwas glattes, Plastikartiges. Es hat eine quadratische Form und steht an der oberen Seite etwas mehr von der Wand ab, als auf der unteren. Der Lichtschalter! Ich drücke darauf und sofort ertönt das angenehm vertraute Brummen. Kurz darauf erhellt eine nackt von der Decke hängende Glühbirne den Gang, in dem ich mich befinde.

Die Vergangenheit ist meine ZukunftWo Geschichten leben. Entdecke jetzt