15. Kapitel

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"Wenn du denkst, ich nehme jetzt diese Hand, dann hast du sie wirklich nicht mehr alle", zischte Timothy durch die Zähne, drehte sich um und verschwand in einem der vielen Gänge des Hauses.

Erleichtert ließ ich meine Hand sinken und konnte meinen kleinen Triumph kaum fassen. Ich hatte es wirklich getan!???!

Doch ich konnte mich nicht lange über diese unerwartete positive Wendung der Ereignisse freuen:

Dann brach der Sturm über mich herein.

Meine Mutter hatte mich erreicht, krallte ihre Hände in meinen Blaumann und zog mich weg von der Steintreppe und all den Gaffern, die sich bereits den Mund fusslig gossipten. Mir blieb nichts anderes übrig, als ihr hinterher zu stolpern und nicht hinzufallen. Sie hätte mich wahrscheinlich einfach weitergeschleift, wenn nötig, an den Haaren, so sauer war sie. Im Gehen rief sie nach meinem Vater, der sich nur wenige Schritte hinter uns befand und ihr offensichtlich zu langsam war. Dass sie ansonsten nichts sagte, war zugleich angenehm, wie auch beunruhigend. Das würde sicher gleich ein Riesen-Donnerwetter geben. Und das war noch untertrieben.

An einer der vielen Türen machten wir Halt und Mutter stieß mich in den Raum und zerrte meinen Vater praktisch hinterher. Ich wusste, dass es jetzt mit der eisigen Stille vorbei war.

Und tatsächlich: Als sie noch einmal kontrolliert hatte, dass uns niemand gesehen hat, schmiss sie die Tür ins Schloß und legte los: "WAS hast du dir nur dabei gedacht? WO ist dein Kleid? WAS ist das da Gräßliches mit deinem Auge?..." So ging es noch weiter. Ich stand gerade, während sie vollkommen aufgebracht vor mir auf und ab lief und eine Schimpftirade vom Feinsten losließ. Antworten brauchte ich nicht, denn die interessierten im Moment sowieso keinen...

Mein Vater war ganz still, wie sonst auch immer. Mutters Gesicht dagegen wurde rot, wie ein Radieschen. Besorgt musterte ich sie. Sie hatte seit jeher Probleme mit dem Blutdruck... Vielleicht sollte ich Vater darauf aufmerksam machen?! Vorsichtig lugte ich in seine Richtung, doch er starrte nur geradeaus und achtete nicht auf mich.

Ich habe in Büchern davon gelesen, dass die Protagonisten zuweilen in wirklich ernsten Situationen in haltloses Gelächter ausbrechen, um den psychischen Stress abzubauen.

... Ich konnte das nie glauben, doch bei dem Kopfkino, meinen Vater mit einem lauten "Pssssss" und einem eindeutigen Nicken in Richtung meiner Mutter auf sie aufmerksam zu machen, brach ich fast in hysterisches Kichern aus.

Gerade, als ich dachte, Mutter bräuchte eine Verschnaufpause von ihrer Zeterei, wurde die Tür aufgerissen und Patricia Porter und ihr Mann Alec kamen herein. Das hatte ich kommen sehen und dennoch verknotete sich vor Angst mein Magen. Meine Mutter war, wie sie war, aber Patricia Porter war einfach nur furchteinflößend.

Auch sie ließ eine Moralpredigt auf mich niederregnen. In Ungefähr der gleichen Reihenfolge: Das Kleid, mein Auge, WAS habe ich mir gedacht, ihr armer Sohn, das Kleid.

So viel Tadel und Missbilligung hatte ich noch nie an einem Tag gehört. ... (Und so viele Schimpfwörter, die ein blaues Auge umschreiben und einen Arbeitsanzug auch nicht.)

Ich schaute nach unten und versuchte auf Durchzug zu schalten, sodass nur noch  Satzfetzen bei mir ankamen. Eine Fähigkeit, die ich seit meiner Kindheit perfektioniert hatte.

"... eine Schande für die Familie ..." (Patricia) "... Unfassbares Benehmen..." (Alec)  "...auch maßlos entäuscht..." (Mutter)          

" ............." (Vater)  " ... mein Timothy will NICHTS mehr mit ihr zu tun haben ..." (wieder Patricia)   "...... ja, ist gerade zu unserem Hotel-Resort nach Fistral Beach aufgebrochen..." (Alec)

" ... kommt auch nicht so schnell wieder." (Patricia) "Dank EURER Tochter..." (Alec)

" ... wird sie natürlich wieder gut machen.... fährt ihm sofort hinterher ..." (Mutter)

Wie bitte?!

Blitzschnell war ich im Hier und Jetzt angelangt und hörte auf jedes Wort, das gewechselt wurde.

"Wir schicken sie gleich morgen in euer Hotel. Dort sollen sich die beiden wieder annähern und Tayrenia hat die Möglichkeit, diesen unmöglichen Faux Pas von heute wieder zu bereinigen. Sie waren doch schon so verliebt", säuselte meine Mutter beschwichtigend.

Von welchen Paar sprach sie da bitte, dachte ich fassungslos?!?

"Es ist meine Schuld, dass sie so aussieht. Sie kann nichts dafür", ertönte da hinter uns eine tiefe Stimme.

Vor Schreck rutschte ich fast von der Tischkante, an der ich mich festgehalten hatte.

Luca!

Was machte er hier? War er lebensmüde?

Dass er kurz davor stand zu Frikasse verarbeitet zu werden, schien ihn nicht zu stören. Er war durch die Hintertür des Zimmers eingetreten und hatte sich zu voller Größe aufgebaut. Ohne mit der Wimper zu zucken, blickte er erst meine Eltern und dann die Porter's an.

Äußerlich erschien er vollkommen ruhig, doch ich sah, dass seine Hand zur Faust geballt war und seine Augen dunkel waren vor Wut.

"Wie meinen Sie das?", fragte Alec bedrohlich.

"Wer ist denn das?", kam es verschnupft von seiner Frau.

Ich musste etwas tun! Sonst würden sie ihn grillen und auf ihren geheimen Altären opfern (das hatten doch reiche, durchgeknallte Leute manchmal und mal ehrlich: Patricia Porter würde so  gut aussehen in einem langen, blutroten Ku-Klux-Klan-Umhang).

Schützend stellte ich mich vor ihn, was zugegebenermaßen vollkommen lächerlich war, da er mich um mindestens einen Kopf überragte und gebaut war, wie ein Boxer.

Doch was war mir ehrlich gesagt egal. Ich wusste zwar nicht, was ihn geritten hatte herzukommen...

Doch ich wollte auf keinen Fall, dass er für mich den Kopf hinhielt.


secret flowerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt